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Frank Kessler und Sabine Lenk

Max Linder auf der Bühne

Der französische Komiker Max Linder zählt zweifellos zu den ersten internationalen Filmstars. Sein Gesicht ist den Kinobesuchern auf beiden Seiten des Atlantiks vertraut. Zylinder und Frackmantel sind sein Markenzeichen, der Name ‘Max’ im Titel eines Films der Firma Pathé Frères setzt schon ab 1908 auf eine hohe Signalwirkung beim Publikum(1). Ebenso wie zahlreiche andere Schauspieler der Frühzeit erwirbt auch Max Linder seine ersten beruflichen Erfahrungen auf der Bühne. Über seine Theaterlaufbahn ist jedoch nur wenig bekannt, und selbst die spärlichen Informationen, die sich in der Literatur finden, sind wenig aufschlussreich, bisweilen sogar widersprüchlich. Im folgenden werde diese unterschiedlichen Darstellungen erörtert, anhand der verfügbaren historischen Quellen analysiert und auf ihre Wahrscheinlichkeit hin untersucht. Ziel ist es, den derzeitigen Forschungsstand hinsichtlich der Anfänge eines der bekanntesten französischen Stars der Frühzeit zu skizzieren und aufzuzeigen, welche Forschungslücken sich selbst bei solch einem prominenten Schauspieler und Regisseur eröffnen.

In Georges Sadouls Histoire générale du cinéma heißt es im 1948 erstmalig veröffentlichten zweiten Band, der am 16. Dezember 1883 in Bordeaux geborene Max Linder sei als Preisträger des Konservatoriums seiner Heimatstadt im Alter von zwanzig Jahren nach Paris gegangen. Dort habe er beim Théâtre de l’Ambigu-Comique in „Les Deux Orphelines“ und „Le Crime d’un fou“ gespielt, bevor Direktor Fernand Samuel ihn ans Théâtre des Variétés holt, wo er drei Jahre lang „de la figuration intelligente“, also „Statisterie mit Verstand“ macht (Sadoul 1973a, 321).

Drei Jahre später, 1951, wendet sich Sadoul im dritten Band der Histoire générale in einem Kapitel über die „Französische Schule der Komik“ erneut Linder zu. Die Angaben sind nun ausführlicher und auch genauer: Linder wird als Gabriel Leuvielle in Saint-Loubès (Gironde) geboren. In Paris habe er als Schauspieler am Théâtre des Variétés zwei große Erfolge als Schauspieler gefeiert, in „Miquette et sa mère“ sowie in „Le Roi“, beide verfasst von Robert de Flers und Gaston-Armand de Caillavet. In dieser berühmt gewordenen Truppe spielt er kleinere Rollen neben Eve Lavallière, Albert Brasseur, Louis Bouchêne genannt Baron sowie Max Dearly und Suzanne Lender(2). Sadoul vermutet, Gabriel Leuvielle habe seinen Künstlernamen aus den Vor- und Nachnamen seiner beiden Kollegen Dearly und Lender zusammengestellt (Sadoul 1973b, 141). Die Formulierung „le jeune acteur créa [...] deux grands succès“ legt bei dieser Darstellung den Gedanken nahe, dass die Bandbreite von Linders Theaterarbeit, obwohl er nur in kleineren Rollen spielt, letztlich doch über die „intelligente Statisterie“ hinausgeht, zumindest jedoch, dass er selbst einen gewissen Anteil am Erfolg der beiden Stücke hat.

Jean Mitry (1967, 260-261) präsentiert eine in manchen Punkten von Sadoul abweichende Version der Anfänge Linders. Dieser Darstellung zufolge lautet der Geburtsname Gabriel-Max Leuvielle, das Pseudonym Max Linder habe der Schauspieler schon auf dem Konservatorium in Bordeaux verwendet. Laut Mitry geht Linder zusammen mit Adrien Caillard, der erst sein Lehrmeister ist, später dann sein Bühnenkollege, nach Paris. Linder arbeitet zunächst am Théâtre de l’Ambigu-Comique, wo er einige Jahre lang in melodramatischen Repertoirestücken auftritt („mélos de repertoire“). Dann wird er von Samuel für das Théâtre des Variétés als Double für Max Dearly engagiert und tritt in verschiedenen Rollen auf.

In der Encyclopédie alpha du cinéma (Favre und Teixidor 1979, 137) findet man weitere, zum Teil unterschiedliche Informationen: als Geburtsname wird Gabriel-Maximilien Leuvielle angegeben, als Geburtsort Cavernes (Gironde). Die Anfänge Linders lesen sich hier wie folgt: Er studiert zunächst Jura und Medizin, entscheidet sich dann, Schauspieler zu werden. Nach einem ersten missglückten Versuch probiert er sich als Architekt aus, kehrt jedoch zur Bühne zurück und tritt als Mime und komischer Darsteller in Nebenrollen in Music-Halls und Varietés auf. Das Konservatorium von Bordeaux verlässt er 1902 als Preisträger, arbeitet dann 1903-1904 am Théâtre des Arts in Bordeaux, von 1904-1906 in Paris sowohl am Théâtre de l’Ambigu-Comique als auch am Théâtre des Variétés.

Max Linders Tochter Maud beschreibt die Anfänge ihres Vaters in einem eher anekdotisch gehaltenen Band der Reihe „Les Dieux du cinéma muet“ etwas ausführlicher (Linder 1992). Ihre Darstellung löst einige der Widersprüche in den früher erschienenen Werken auf, wirft aber auch neue Fragen auf. So präzisiert sie den Geburtsort: Das Haus der Eltern von Gabriel Leuvielle steht in dem Dorf Cavernes, das Teil der Gemeinde Saint-Loubès ist. Er hat einen älteren Bruder, Maurice. Er selbst wird laut Maud Linder, die hierfür allerdings keinerlei Gründe nennt, zeit seines Lebens Max gerufen (1992, 5-6). Schon als Kind organisiert er mit seinen Freunden Theatervorstellungen im elterlichen Garten (7). Während seiner Internatszeit erhält er, ohne Wissen der Eltern und dank der Vermittlung des Bürgermeisters von Saint-Loubès, Dr. Ducan, Sprechunterricht bei Adrien Caillard (8). Schließlich verlässt er die Schule und schreibt sich beim Konservatorium von Bordeaux ein. Dr. Ducan hilft ihm dabei, den Widerstand der Eltern zu überwinden (ebd.). Trotz zahlreicher Erfolge (erste Bühnenauftritte, ein 2. Preis zum Abschluss seines ersten Jahrs am Konservatorium, wobei der 1. Preis nicht vergeben wird, lobende Kritiken in der Lokalpresse) wird er nach einer Auseinandersetzung mit einem der Professoren von der Schule verwiesen. Er spielt am Théâtre des Arts in Bordeaux, dessen als missgünstig beschriebener Direktor Bachelet ihn meist nur in kleinen Rollen auftreten lässt (9). Da sein Vater nicht will, dass Max den Familiennamen verwendet, tritt er für einige Zeit unter dem Namen „Lacerda“ auf. Bei einem Spaziergang mit seiner Schwester Marcelle fällt sein Blick auf das Firmenschild eines Schuhladens, wo er den Namen „Linder“ liest, den er von da an als Künstlernamen trägt (ebd.). Maud Linder führt die Spannungen mit Bachelet als Grund dafür an, dass Max Linder seinem Lehrer Caillard nach Paris an das Théâtre de l’Ambigu-Comique folgt. 1904, 1905 und 1906 versucht er jeweils vergeblich, beim Konservatorium in Paris angenommen zu werden. Er spielt deshalb weiterhin mit magerem Gehalt in kleinen Rollen am Ambigu (21). Darüber hinaus enthält das Buch Maud Linders keine Informationen zur Bühnenkarriere ihres Vaters, mit Ausnahme einer Bemerkung en passant, dass er am Théâtre des Variétés als Double Max Dearlys engagiert ist (23).

Da allerdings in keiner dieser Darstellungen Quellen angegeben werden, bleibt Vieles unklar. Maud Linders Wiedergabe der Ereignisse schafft Deutlichkeit hinsichtlich des Geburtsorts, zudem wird hier die Wahl des Künstlernamens einigermaßen motiviert: Der Wunsch des Vaters, den Familiennamen nicht mit der Theaterbühne verknüpft zu sehen, ist nicht unwahrscheinlich, der Vorname Max entstammt der Familientradition, der Nachname Linder jedoch dem Zufall. Sadouls Hypothese einer impliziten Hommage an die Kollegen Max Dearly und Suzanne [sic] Lender erscheint dem gegenüber weniger plausibel, zumal es auch keinen Grund gibt, warum der Schauspieler sich erst zu diesem Zeitpunkt einen Künstlernamen zulegen sollte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind solche Pseudonyme in Journalisten- und Künstlerkreisen weit verbreitet. Max Linder unterscheidet sich in dieser Hinsicht keineswegs von seinen späteren Kollegen, denn u.a. am Théâtre des Variétés treten fast alle Bühnengrößen unter einem anderen Namen auf. Zudem mögen auch praktische Gründe eine Rolle spielen: „Max Linder“ spricht sich leichter und ist einprägsamer als „Gabriel Leuvielle“.

Andererseits bleiben auch in Maud Linders Darstellung eine Reihe von Fragen offen: Welchen Status hat der junge Schauspieler? Seine Tochter beschreibt ihn als talentierten Provinzschauspieler, dem man in seiner Heimat nicht die Möglichkeit bietet, seine Fähigkeiten zu entfalten. Er muss das Konservatorium verlassen, weil er sich mit einem der Professoren dort überworfen hat; der Direktor des Theaters, an dem er spielt, sorgt dafür, dass er nur unbedeutende Rollen spielen darf. Doch auch auf den Pariser Bühnen gelingt ihm der Durchbruch nicht. Bei der Aufnahmeprüfung für das Konservatorium der Hauptstadt scheitert er gar drei Mal hintereinander. In diesem Punkt ist Maud Linders Darstellung widersprüchlich: Einerseits betont sie Max Linders Talent, das offenbar nur durch die Widerstände in seiner Umgebung daran gehindert wird, sich zu entfalten, andererseits beschreibt sie seine Bemühungen, auf dem Theater seinen Durchbruch zu erreichen, als eine Folge von Rückschlägen, sodass seine Kinokarriere nicht nur als Ausweg aus der beruflichen Krise, sondern letztlich als Linders wahre Berufung erscheint. Hier darf man wohl eher von einer kalkuliert gestrickten Legende sprechen als von einer präzisen historischen Analyse.

Interessant ist in diesem Zusammenhang eine von der Firma Pathé Frères veröffentlichte zeitgenössische Beschreibung des Werdegangs ihres Stars(3). Hier heißt es, er habe den „Ersten Preis“ am Konservatorium von Bordeaux erlangt, 1902 beim Théâtre de l’Ambigu-Comique debütiert, dann beim Théâtre Réjane und schließlich beim Théâtre des Variétés gespielt, bevor er 1905 von Pathé engagiert wird. Möglicherweise will Pathé das Prestige des Schauspielers mit dem Hinweis auf die verschiedenen Stationen seiner Bühnenkarriere aufwerten. Denn das Théâtre de l’Ambigu-Comique auf dem Boulevard Saint-Martin gehört zwar zu den alteingesessenen Pariser Etablissements, doch liegt es am „Boulevard du Crime“ („Straße des Verbrechens“), d.h. es zählt es zu den Häusern, die wegen ihres Repertoires aus Sensationsdramen und Melodramen für eher fragwürdig gelten. Das Théâtre des Variétés am Boulevard Montmartre gleich um die Ecke hingegen gilt als „seriöses Theater“, es spielt hauptsächlich Operetten und komische Opern, aber auch Komödien. Es zählt dank seiner Dramatiker und seiner Darsteller um 1900 bis zum ersten Weltkrieg zu den führenden Bühnen Frankreichs. Das Théâtre Réjane in der rue Blanche, benannt nach der bekannten Schauspielerin, trägt erst 1906 diesen Namen (wohingegen Max Linder laut dieser Beschreibung schon 1905 bei Pathé unter Vertrag steht und angeblich bereits vor diesem Zeitpunkt dort gespielt hat)(4). Wie seine Direktorin gilt dieses Haus als modern, und dank ihrer großen Popularität sichert es sich sein Publikum. Es ist durchaus möglich, dass die Firma Pathé mit der Nennung einer dritten Hauptstadtbühne die Theaterkarriere ihres Stars vielschichtiger erscheinen lassen will und seine darstellerische Bandbreite auch auf die Interpretation von Liebesgeschichten – der Spezialität von Réjane – ausdehnen möchte. Ein Engagement Linders bei diesem renommierten Theater wird in der einschlägigen Literatur allerdings nirgends erwähnt, auch nicht von seiner Tochter Maud. Die Werbeabteilung von Pathé Frères datiert zudem sein Pariser Bühnendebüt auf 1902, während alle anderen Quellen 1904 nennen. Dies ist nicht nur mit Blick auf das Alter Linders wenig wahrscheinlich, es wird auch von einem der wenigen erhaltenen zeitgenössischen Dokumente, einem von Maud Linder wiedergegebenen Programmzettel aus Bordeaux, recht eindeutig widerlegt.

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Denn was lässt sich nun tatsächlich hinsichtlich der Bühnenkarriere Max Linders belegen? Welches Quellenmaterial ist erhalten? Maud Linder (1992, 16) reproduziert einen Programmzettel des Konservatoriums in Bordeaux vom 7. Juli 1903, dem zufolge Monsieur Leuvielle, Gabriel, 19 Jahre und 8 Monate alt, die Rolle des Percinet in Edmond Rostands „Les Romanesques“ vorträgt und einem anderen Schauspieler die Repliken spricht.(5) Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt verwendet der Debütant also noch seinen Familiennamen und befindet sich noch in der Ausbildung in Bordeaux. Damit ist ein Pariser Bühnendebüt 1902 auszuschließen. Ungeklärt bleibt, ob die Wahl des Künstlernamens tatsächlich in Zusammenhang mit seinem von Maud Linder mit Fotos dokumentierten Engagement am Théâtre des Arts in Bordeaux steht.

Darüber hinaus werden zumindest zwei der Stücke, in denen Linder in Paris auftritt, in der Zeitschrift L’Illustration théâtrale ausführlich präsentiert (ohne dass diese Quelle in der einschlägigen Literatur erwähnt würde), sodass man sich ein, sei es auch nur sehr fragmentarisches Bild von den von ihm verkörperten Rollen machen kann.

In L’Illustration théâtrale Nr. 22 vom 23. Dezember 1905 findet man das Stück „La grande famille“ des Autors Alexandre Arquillière abgedruckt. Es ist André Antoine gewidmet, der bei der Uraufführung im Théâtre de l’Ambigu-Comique am 22. November 1905 die Regie führt. Neben Linder spielen unter anderem sein früherer Lehrer André Caillard, Henri Etiévant, Jean Liézer, Vincent Denizot, Jacques Villa, André Picard, Champdor sowie Suzanne Munte. Alle diese Kollegen haben auch für Pathé gearbeitet, Jean Liézer (oder Liezer, wie Bousquet den Namen schreibt) bereits 1901 in kleinen komischen Rollen, Vincent Denizot 1904 als Kolumbus sowie als König Ludwig XIV in historischen Filmen.(6)

„La grande famille“ spielt im Milieu des Militärs und ist offenbar für die Zeitgenossen schwer einzuordnen. Unter dem Titel „La grande famille au théâtre de l’Ambigu“ präsentiert Gaston Sorbets auf den Umschlagseiten des Hefts der Illustration théâtrale das Stück, seine Entstehung sowie Auszüge aus verschiedenen Kritiken. Der Autor Arquillière debütiert als Schauspieler an André Antoines Théâtre-Libre, tritt dann in verschiedenen Boulevard-Theatern auf, bevor er zum Militär eingezogen wird. Er wird Zeuge der tragischen Rivalität eines Offiziers und eines Unteroffiziers um eine Sängerin, die ihn zu einer Kurzgeschichte inspiriert, die aber unveröffentlicht bleibt. Erst später arbeitet er sein Erlebnis um in ein Theaterstück, das Gaston Sorbets wie folgt charakterisiert:

Doch dies ist kein Melodram [...]; der Stil, bisweilen realistisch, bisweilen fast eindringlich, ist eher einfach, und die Handlung ist ebenso einfach wie der Stil, gewürzt mit amüsanten und wahrhaften Anekdoten, von dramatischen und packenden, sehr wirklichkeitsgetreuen Episoden bewegt. [...] Man fühlt und man sieht, dass [das Stück] geschrieben und aufgeführt wurde, ohne die militaristischen oder antimilitaristischen Gefühle der Zuschauer zu schonen, aber auch ohne die Absicht, sie zu verletzen – einzig mit dem Ziel, die Wahrheit wiederzugeben; nach so vielen Stücken über das gleiche Thema, aber mit dem Hintergedanken der Verleumdung oder der systematischen Überhöhung, ist dies [...] das erste, das uns eine exakte – weder geschmeichelte noch entstellende – Schilderung der französischen Kaserne gibt.

Auch die von Sorbets zitierten Kritiken loben den Realismus des Stücks, unabhängig davon, ob sie dem nationalistischen und damit militärfreundlichen oder aber dem antimilitaristischen Lager zugehören (in dieser von Sorbets hervorgehobenen Zweiteilung sind ganz deutlich noch die im Zusammenhang der Dreyfus-Affäre aufgebrochenen gesellschaftlichen Spannungen spürbar). Es sind wohl die besonderen Qualitäten des Stücks, die L’Illustration théâtrale dazu bewegt haben, ihm eine Ausgabe zu widmen. Denn Sorbets betont gleich einleitend in seinem Beitrag, dass es hier um die Aufführung eines Theaters geht, zu dessen Stammpublikum die Leser des Blatts eher nicht zählen. Und in der Tat: Meist präsentiert die Zeitschrift Inszenierungen der großen Pariser Häuser, wie der Comédie-Française oder dem Théâtre de l’Odéon. Mit Blick auf die Theaterkarriere Linders deutet dies auf zweierlei: „La grande famille“ ist also ein Stück, das seinerzeit durchaus die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, auch wenn der Titel von den Filmhistorikern nicht genannt wird, wenn sie die Bühnenerfolge Linders aufzählen. Gleichzeitig wird deutlich, dass das Ambigu, an dem Linder engagiert ist, bestenfalls als zweitrangig gilt in der Pariser Theaterlandschaft.

Szene aus "La grande famille" mit Max Linder (2. v. r.)
(aus: L’Illustration théâtrale)

In „La grande famille“ stellt Linder den Unterleutnant Rondet d’Issennes aus Nevers dar, dessen Vater schon bei der Armee war. Rondet hat eine Affäre mit der Café-Concert-Sängerin Lili, die auch von anderen Soldaten seiner Kompanie bewundert wird. Sie beschimpft ihn als „Stoffel“, weil er sie schon lange auf einen versprochenen Hut warten lässt, und ist eifersüchtig, weil er auch mit anderen Frauen gesehen wird. Andere Personen dagegen bezeichnen ihn als „nett“. Rondet ist offenbar belesen, er zitiert Napoleon. Lili ist für ihn nur eine Liebschaft, er weiß, sie ist nur eine „fille“ und damit unter seinem Stand. Er ist mit der eher negativ gezeichneten Hauptfigur des Leutnant Brune (gespielt von Etiévant) befreundet. Brune verliebt sich in die Sängerin Louise und stellt ihr nach, ohne sie gewinnen zu können, weil sie den Unteroffizier Bertrand begehrt. Letztlich sagt er sich von ihr los, um wieder voll und ganz Soldat sein zu können. Rondet unterstützt ihn, zunächst bei seinen Versuchen, Louise zu gewinnen, danach, als er von ihr loskommen will. Linder tritt in diesem Stück in mehreren längeren Szenen auf, er spielt eine für die Handlung wichtige Nebenrolle. Seine Darstellungsleistung wird von Gaston Sorbets zusammen mit der seiner Kollegen gewürdigt: „Die Herren Caillard, Liezer, Moret, Linder [...] erfüllen ihre Aufgabe mit Talent.“

Das etwa ein Jahr später, also im Dezember 1906(7) in L’Illustration théâtrale Nr. 47 wiedergegebene Stück „Miquette et sa mère“ wird von Sadoul (1973b, 141) als „großer Erfolg“ Linders genannt, auch wenn dessen Rolle hier minimal ist, gerade einmal aus vier Sätzen besteht. Die Darsteller in den Hauptrollen sind Albert Brasseur, Max Dearly und Prince (Bühnenpseudonym von Charles Petitdemange), sowie Eve Lavallière und Marie Magnier. Sowohl Dearly als auch Prince arbeiten später auch für Pathé Frères. Prince verkörpert bei Pathé die Figur des Rigadin und gehört damit neben André Deed, Sarah Duhamel, Paul Bertho, Jean Durand, Ernest Bourbon und natürlich Max Linder zu den wichtigen französischen Komikern der Frühzeit.

„Miquette et sa mère“ ist eine Komödie in drei Akten von Robert de Flers und Gaston-Armand de Caillavet um ein junges Mädchen (Eve Lavallière) aus der Provinz, das sich in den liebenswürdigen, aber geistig leicht verwirrten Erben (Prince) eines reichen Provinzadeligen verliebt und diesen nach einigen Verwicklungen auch heiratet. Linder hat einen kurzen Auftritt am Ende der vorletzten Szene des ersten Akts. Er spielt einen Bäckergesellen, der einen Laden für Tabakwaren betritt und den sich dort aufhaltenden Marquis für einen Angestellten hält. Er verlangt eine Zigarre, die ihm der Adlige aus seinem Etui anbietet. Als er bezahlen will, lehnt der vermeintliche Verkäufer entrüstet ab. Mit den Worten: „Danke, alter Freund. Was für ein seltsamer Tabakladen! Hierher komme ich zurück.“, verlässt er das Geschäft, während der Marquis verblüfft zurückbleibt und sich über die Frechheit des Bäckergesellen empört.

Kulisse des 1. Akts von "Miquette et sa mère"
(aus: L’Illustration théâtrale)

Linder erscheint in „Miquette et sa mère“ in einer komischen Standardsituation, deren Wirkung darauf beruht, dass er aufgrund seines Irrtums hinsichtlich der Position seines Gegenüber ein Verhalten an den Tag legt, mit dem er die ungeschriebenen Gesetze eines ‚standesgemäßen‘ Benehmens unwissentlich verletzt. Die Szene verlangt also vom Schauspieler kein explizit komisches Verhalten, die Komik resultiert aus der spezifischen Figurenkonstellation, die in dieser Lage entsteht.

*****

Diese beiden belegbaren Bühnenrollen Max Linders aus den Jahren 1905 und 1906, zu einem Zeitpunkt also, da er bereits in Filmen der Firma Pathé zu sehen ist (wenn auch noch nicht als ‘Max’), können nicht mehr liefern als zwei Momentaufnahmen aus seiner Theaterkarriere. Auch wenn dies kaum Rückschlüsse, geschweige denn Verallgemeinerungen zulässt, zeigt sich doch, dass Linder offenbar nicht schon auf ein Fach oder einen Typus festgelegt ist. Dies gilt möglicherweise auch für seine ersten Filmrollen. Zwar fallen alle bei Bousquet (1996) für die Jahre 1905 und 1906 ihm zugeordneten Filme unter die Rubrik der scènes comiques, doch 1907 ist er auch in dramatischen Rollen und in einer Feerie (vgl. Bousquet 1993, 3, 25, 38) zu sehen. Da viele Filme nicht erhalten sind und mangels anderer Dokumente ist es schwierig, sich ein genaues Bild vom Rollenspektrum Linders in diesen Jahren zu machen.

Was seine Theaterkarriere betrifft, so sind die Aussagen in der Sekundärliteratur alles in allem wenig verlässlich und vor allem meist unbelegt. Hier ist weiteres Quellenstudium nötig. Die Perspektive kann dabei allerdings keine teleologische sein: Die Bühnenauftritte Linders werden sich nur schwer als Vorboten seiner späteren Filmerfolge deuten lassen, denn sie finden in einem Rahmen statt, der ihm in dieser Hinsicht kaum Entfaltungsmöglichkeiten lässt. Wie sich an seinen Filmen zeigen wird, liegt ihm vor allem das komische Fach. Das Ambigu und das Variétés bieten ihm mit ihrem Repertoire in dieser Richtung wenig Perspektiven. Auch berühmte Kollegen wie Eve Lavallière (als Chorsängerin in Operetten begonnen), Max Dearly (mit Music-Hall-Hintergrund) oder Baron (der Komischen Oper zugeneigt) eignen sich nur partiell als Vorbilder, nämlich dann, wenn sie wie Dearly in Komödien durch ihre Körpersprache das Publikum zum Lachen bringen. Andererseits wäre hier aber auch anzumerken, dass Linder durch seine Arbeit für das Théâtre de l’Ambigu-Comique mit einem Publikum konfrontiert wird, das auch die (Laden-)Kinos frequentieren wird: einfache Angestellte und auch Arbeiter, die leicht zugängliche Unterhaltung suchen.

Weit interessanter sind hier andere Fragen, die an der Laufbahn Max Linders wie an vielen anderen Karrieren zu untersuchen wären: Unter welchen Umständen arbeiten junge Schauspieler im Frankreich der Jahrhundertwende? Inwieweit eröffnet der Film ihnen Alternativen? Welchen Preis zahlen sie beim Wechsel von der Bühne zum Film? Wie durchlässig sind die Grenzen zwischen beiden? Inwieweit bereitet die traditionelle Bühnenausbildung auf das Spiel vor der Kamera vor? Welche Vor- oder Nachteile haben Theaterschauspieler in der Konkurrenz mit Varietékünstlern oder Zirkusartisten? Die frühe Karriere Max Linders böte gewiss viel Stoff für die Erforschung solcher Fragen.

Darüber hinaus bleibt festzuhalten, dass trotz des hohen Bekanntheitsgrads dieses ersten internationalen Stars der Frühzeit, der Beginn seiner Karriere merkwürdigerweise nur bruchstückhaft erforscht ist, obwohl es hierzu in französischen Bibliotheken und Archiven durchaus noch Material geben dürfte. Die hier präsentierte, eher bescheidene Recherche zeigt somit auch, dass es für die Filmhistoriker selbst auf scheinbar bekanntem Terrain noch viel zu erforschen gibt.

siehe auch:
http://slapstick-comedy.com/PLinder1.html
http://silentgents.com/PLinder.html

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