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Kommentar

"Throwback 89" oder die neue Teenie-Soap der Tagesschau

Das Social-Media-Team der Tagesschau lässt junge Nutzer den Mauerfall noch einmal hautnah miterleben. In Form eines modernen Videotagebuchs mit dem Titel: "Throwback 89 - Wie hätte die Wende bei Instagram ausgesehen?" inszeniert die Tagesschau den Mauerfall 30 Jahre später in den sozialen Netzwerken. Als bekennender Instagram-Suchti begab ich mich also in den letzten 18 Tagen auf eine fiktive Reise in die historischen Wochen kurz vor der Wende.

Nora Sommerfeld nimmt uns in ihrem Videotagebuch zu den historischen Wochen kurz vor der Wende mit. Foto: Tagesschau.de

Nora Sommerfeld nimmt uns in ihrem Videotagebuch zu den historischen Wochen kurz vor der Wende mit. Foto: Tagesschau.de

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Dem ARD-aktuell Chefredakteur Marcus Bornheim zufolge sind über 70 Prozent der Abonnenten des Instagram-Auftritts der Tagesschau jünger als 35 Jahre. Die Social-Media-Abteilung versucht sich also darin, einem Großteil seiner Follower den Mauerfall näher zu bringen, die im Jahr 1989 noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt hatten. Die Verantwortlichen der Nachrichtensendung bekennen dazu: "Es ist der Versuch, junge Zielgruppen für deutsche Geschichte zu begeistern". Da wären wir wieder: Geschichtliche Aufklärung für die einfältigen und uninteressierten jungen Erwachsenen der Generation Y und Z. So funktionieren also Generationen-Begegnungen im Sinne der Tagesschau. Nicht auf Augenhöhe, dafür aber, neben Instagram, mit Augmented Reality Technologie auf Snapchat.

Die formalen Kriterien der inszenierten Zeitreise scheinen grundsätzlich zu funktionieren: Die Aufbereitung ist zeitgemäß - zeitgemäß für das Jahr 2019, aber gleichzeitig auch passend, wenn wir 30 Jahre zurückdenken. Der tägliche Content via Instastory wird ergänzt durch zusätzliche Einblicke mit Postings im Feed. In Form eines "Vlogs" führt uns die 17-jährige Protagonistin Nora Sommerfeld aus Rostock durch ihr Leben. Die Schülerin gibt uns anhand weniger 15-Sekunden Clips täglich einen Einblick in die DDR, die die 20-jährige Schauspielerin hinter der Kamera selbst nie kannte. Nora wird während der Vlogs wie eine unserer Lieblingsinfluencerinnen, die wir täglich zwischen Tür und Angel auf Instagram verfolgen, um zumindest das Gefühl zu bekommen, dabei zu sein. Parasoziale Beziehung nennt sich das. Nach allen Regeln der Kunst - in diesem Fall der Plattform Instagram - werden die täglichen Instastories so knapp gehalten, dass man das Gefühl nicht loswird, die tatsächlichen Geschehnisse aus den Augen - Verzeihung - aus dem Smartphone-Bildschirm zu verlieren.

Nach mittlerweile 18 Tagen erinnert mich der Vlog von Nora, mit ihrer Sicht auf den Zerfall der DDR, eher an eine Teenie-Soap, als an ein tragisches und zugleich einmaliges historisches Ereignis der neuesten, deutschen Geschichte. Die kritischen Kommentare im Netz von Zeitzeugen des Mauerfalls wundern mich nicht, im Gegenteil. Der Versuch, die Unzufriedenheit vieler DDR-Bürger in kurzen Videosequenzen einer Jugendlichen darzustellen, ist bereits von Beginn an zum Scheitern verurteilt: Wir lernen die Protagonistin kennen, wie sie ziemlich behütet in einem fürsorglichen Elternhaus in Rostock aufwächst. Dank ihrer erfolgreichen Schullaufbahn kann sie in naher Zukunft ihren Traum, Meeresbiologin zu werden, in Angriff nehmen und genießt dazu für ihr Alter recht viele Freiheiten. Was sie mit dem Beginn der Aufzeichnung des Tagebuchs plötzlich erschüttert, sind die Unruhen um sie herum: Ihre beste Freundin, die mit ihrer Familie über Ungarn flieht, Eltern, die plötzlich von politischen Themen heimgesucht werden, die Schwester, die in Berlin auf der Straße demonstriert, gepaart mit Ungerechtigkeiten, die wohl jeden Jugendlichen im Laufe der Schullaufbahn beschäftigen. Am Ende des Tages läuft allerdings alles auf Noras erste große Liebe Falk hinaus - ein Punk für Anfänger und mehr oder minder talentierter Musiker, natürlich ein Dorn im Auge ihrer Eltern und im SED-Staat.

Eines muss man den Social-Media-Verantwortlichen allerdings lassen: Der Vlog zum Mauerfall unterhält mich ehrlich. Es ist ein mutiger Versuch, den Fall der Mauer und dessen Folgen einer Generation verständlich zu machen, für die die Republik zumindest auf dem Papier schon immer geeint war. Doch zugegebenermaßen interessiere ich mich in Bezug auf das Videotagebuch mittlerweile mehr dafür, ob Nora auch nach dem Mauerfall Meeresbiologin werden wird und in Falk wirklich ihre große Liebe gefunden hat, als für die Wende aus ihrer Perspektive.

Ob die Tagesschau es geschafft hat, Millennials und die Generation Z den Mauerfall mit ihrer inszenierten Zeitreise näher zu bringen, wird sich in wenigen Tagen nach der Evaluation des Projektes zeigen. Was das Social Media Team auf alle Fälle erreicht hat, ist eine Teenie-Soap mit Suchtfaktor auf dem Kanal Instagram zu schaffen, die während den historischen Wochen kurz vor dem Mauerfall spielt. Ob das die ursprüngliche Intension der Verantwortlichen war, mag ich an dieser Stelle allerdings bezweifeln - die Social-Media-Abteilung sollte geschichtliche Aufklärung dann wohl doch lieber Anderen überlassen. 

 

Margarita Fangrat

Kommentare geben nicht die offizielle Haltung der Hochschule wieder, sondern nur die Meinung oder Einschätzung des kennzeichnenden Autors. Im Falle der HdM-Website sollen sie außerdem zur Diskussion über ein aktuelles Medienthema im Zeitgeschehen anregen

VERÖFFENTLICHT AM

08. November 2019

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