Portalbeitrag

Journalismus im digitalen Wandel. Am Beispiel des Hashtags Selfie und des neuen Selfie Journalismus.

Abstract

In der digitalen Sphäre verändern sich unsere eingeübten kommunikativen Kulturtechniken. Erst siegte das Internet, nun wandert es ins Mobile. Heute kommunizieren bereits mehr als 90 Prozent der gesamten Weltbevölkerung überwiegend mit Hilfe ihrer Smartphones. Blitzschnell, allgegenwärtig und von unterwegs, ortsunabhängig und interaktiv. Paradigmatisch für die veränderten Kommunikationsgebräuche sind digitale #Selfies, täglich millionenfach in Social Media veröffentlicht. Selfies sind Selbstporträts, die meist direkt mit einem Mobile produziert und, ohne das mobile Gerät zu verlassen, unmittelbar auf Social Media Plattformen geteilt werden.

Selfie-Nutzer berichten, dass sie im #Selfie einen Moment, den sie als besonders wichtig erfahren, mit Freunden und anderen in Echtzeit teilen möchten. Aber auch Journalisten entdecken mit dem Mobile eine innovative Technik, unmittelbar, in Echtzeit und informell zu berichten. Dabei sind Mobile-Reporter in ihrer Geschichte im Selfie-Modus präsent, verschwinden nicht wie im konventionellen Journalismus im Off der Bild- oder Audioproduktion. Im vorliegenden Beitrag beschäftige  ich mich mit der Frage, was ein #Selfie kennzeichnet und inwiefern das #Selfie unsere Identitätszuschreibungen und die Rolle von Journalisten im digitalen Journalismus transformiert.

 

 

Text

“Anleitung: Biometrisches Passfoto mit App aufnehmen.

Schritt eins: Öffnen Sie die App und tippen auf das Kamerasymbol, um die Kamera Anwendung zu öffnen.

Schritt zwei: Tippen Sie auf den Reiter >Passfoto Automat<. Wenn diese Option nicht angezeigt wird, tippen Sie auf >Hinzufügen Passfoto Automat<, um ihn den Aufnahmemodi hinzuzufügen.

Schritt drei: Tippen Sie nun auf das hinzugefügte Symbol >Passfoto Automat< und wählen Sie das Format >Biometrisches Passfoto<.

Schritt vier: Tippen Sie auf das Symbol >Starten<, um die Aufnahme zu starten und folgen Sie dabei zuerst den Anweisungen, wie Sie Ihre Augen und Ihren Gesichtsausdruck ausrichten sollen. Sie dürfen nicht lächeln, müssen ihren Mund geschlossen halten und direkt in die Kamera sehen.

Schritt fünf: Die Kamera wird in einem Abstand von 2 Sekunden mehrere Bilder aufnehmen - danach ertönt ein lautes “Piepsgeräusch”. Wenn Sie bereit sind, tippen Sie auf den roten Kreis  und beginnen das >Recording<.“

So oder ähnlich lautet eine Anleitung für die biometrische Passfotoaufnahme mit einer App auf einem Smartphone. Längst möglich heutzutage. Noch vor zehn Jahren musste man für ein biometrisches Foto in ein Studio gehen und gemeinsam mit dem Fotografen herausfinden, wie ein biometrisches Foto funktionieren und aussehen würde. Damals, 2005, lebte ich in Nairobi und die deutsche Botschaft verlangte zum ersten Mal für die Verlängerung meines Passes ein biometrisches Foto. Das Format war optisch und technisch ungewohnt, und bis zum gewünschten Ergebnis brauchte ich zwei Studiobesuche, mehrere Probeaufnahmen, Nachfragen bei der Botschaft und es kostete mich eine Stange Geld.

 

Heute dauert das Ganze bloß ein paar Minuten. Solange, wie es braucht, die App auf sein Smartphone herunter zu laden, dann zu öffnen und den Anweisungen folgend das Passfoto aufzunehmen. Fertig für den sofortigen Gebrauch, beispielsweise für unmittelbares Teilen in Sozialen Netzwerken oder die amtliche Verwendung in digital produzierten Pässen.

Andere fotografische Aufnahmen wie einfache Selbstporträts und spontane Schnappschüsse gelingen mit Smartphones noch schneller. Dafür öffnet man bloß die Kamera-App auf der Oberfläche seines Smartphones und tippt auf >Aufnehmen<. Unmittelbar danach kann man die Aufnahmen auf seiner Camera Roll aufrufen, bearbeiten, per E-Mail versenden oder öffentlich teilen.

 

In nicht-industriellen Weltregionen, wie beispielsweise in Ostafrika mit der kenianischen Metropole Nairobi, wo ich vier Jahre, von 2004 bis 2008, lebte, übersprang man das Zeitalter von Festnetz und Fax und landete in den Nullerjahren direkt in der digitalen Sphäre. Während sich die Menschen in den meisten Industrieländern in der Frühzeit von Smartphones und Apps der digitalen Sphäre langsam näherten, integrierten viele Bewohner Kenias und Nairobis, unter ihnen auch ich, die kleinen digitalen Geräte ganz selbstverständlich in ihren Alltag, generationsübergreifend und allgegenwärtig, und mit ihnen auch Social Media und Apps. Dieses positive Mind Set spiegelt sich bis heute im Umfang der Unique Mobile Nutzer, die über 70% der Gesamtbevölkerung umfasst, und im Abruf der News-Streams auf Mobile wieder, die morgens und abends bei über 95% liegt (übrigens auch in England), während mittags, am Arbeitslatz, tendenziell überwiegend noch Browser genutzt werden.

Mit den praktischen Computern direkt in Hosen- oder Jackentasche ließ sich auf einmal vieles schneller und zuverlässiger erledigen, Verabredungen schnell kommunizieren, Geld transferieren, Staumeldungen in Echtzeit abrufen, studentische Fragen beantworten - und natürlich auch spontane Selbstporträts an Freunde und Bekannte in Europa versenden, um ihnen eine Idee davon zu vermitteln, wo und mit wem ich gerade unterwegs war. So gelang es mir, meinen Alltag zumindest visuell mit vielen zu teilen. Wichtiger noch ist die Tatsache, dass Social Media und die mit ihnen entstandene Selfie-Kultur auf veränderten, interaktiven, digitalen Echtzeit Kommunikations-Techniken beruhen, die sich dynamisch weiterentwickeln und die man kontinuierlich nutzen und mitentwickeln muss, um sie zu verstehen. Ein Nutzer digitaler Kommunikationstechniken verändert seine gesamte Mediennutzungsstrategie, Zeitmanagement und Arbeitsorganisation und vieles mehr.

 

Heute werden Smartphones und mit ihnen Social Media überall auf der Welt genutzt, in urbanen und ländlichen Regionen. Mit der massenhaften Nutzung von Smartphones ist zugleich die Menge an selbst aufgenommenen und öffentlich geteilten fotografischen Selbstporträts explodiert. Unter dem Begriff  “#Selfie” sind sie ein allgegenwärtiges Phänomen in der digitalen Kommunikation in sozialen Netzwerken geworden, aber auch in der künstlerischen Auseinandersetzung in Offline-Medienräumen wie Museen und in Untersuchungen von Medienwissenschaftlern, Soziologen und Medienpsychologen, die erforschen, welche Eigenschaften Selfies haben, was sie über ihre Nutzer in Sozialen Medien aussagen, inwiefern und wie sie die Nutzungsgewohnheiten beeinflussen.

Durchschnittlich werden auf Youtube heute in 1 Sekunde Videos in der Gesamtzeit von mindestens 1 Stunde geteilt, auf Facebook werden in 1 Sekunde mindestens 3,5 Millionen Fotos geteilt. Darunter sind täglich plus minus 1 Million Selfies, die aufgenommen und in Sozialen Netzwerken öffentlich geteilt werden. Auf der Plattform Instagram, auf der Nutzer ihre Geschichten erzählen, indem sie ein Foto mit kurzen Texten oder Hashtags posten, sind bis heute mehr als 90 Millionen Fotos mit dem Hashtag #me gepostet worden. Die Frage ist, welchen Wert und welchen Nutzen haben #Selfies für die kommunikativen Bedürfnisse der Nutzer in der digitalen Sphäre und sind #Selfies mehr als bloß narzisstische Visualisierungen?

Wenn wir von #Selfie sprechen, meinen wir in der Regel Fotos, die mit einem mobilen Smartphone oder Tablet vom Fotografierten selbst alleine oder mit anderen aufgenommen und in Sozialen Netzwerken veröffentlicht werden. #Selfies gehören zu der Gruppe digital hergestellter fotografischer Selbstporträts und sie gehören wie alle Fotos zu den visuellen Medienformaten. Bilder werden von unseren Sinnen schneller als Schriftzeichen und Texte gescannt und vom Gehirn verarbeitet.

Aus der Mediennutzungsforschung wissen wir, dass Nutzer lange Texte und schriftliche Informationen auch auf ihren relativ kleinen Smartphones lesen. Wir wissen aber auch, dass zuallererst die visuellen Informationen in einer Nachricht wahrgenommen werden, bevor Nutzer sich in vielen Fällen dann dem Text zuwenden oder zum Text weiter klicken.

Wenn jemand heute sein Smartphone nach Nachrichten und Informationen durchgeht, entscheiden die ersten vier bis sieben Sekunden, ob sie oder er die Informationen relevant findet. Diese Zeitspanne wird von Fotos und visuellen Elementen optimal genutzt. Erst nachdem sie sich über ein Foto oder ein Visual einem Thema, einer Geschichte oder einer Person nähern, sind Nutzer, die sich für weitergehende Informationen interessieren, bereit, sich auch länger mit tiefergehenden Texten zu diesem Thema zu beschäftigen.

 

Zum einen besitzen #Selfies also die attraktive Eigenschaft von Fotos, die ich in der digitalen Sphäre mit unter dem Schirmbegriff “Visuals” erfasse. Unter Visuals verstehe ich alle digitalen bildlichen Darstellungen, seien es Fotos oder Cartoons, Karikaturen, Avatars, Logos, Videos. Visuals ziehen die Aufmerksamkeit des Betrachters in Sekundenschnelle auf sich, Nutzer verstehen sie meistens intuitiv und blitzschnell. Oftmals verwenden oder spielen einzelne Visuals, die als Ein-Bild-Geschichten funktionieren, auf Requisiten oder Plotelemente aus Märchen, Fabeln oder Popkultur an, die im allgemeinen Kulturarchiv sozialer Gruppen bewußt oder unbewußt präsent sind. Aus Nutzerbefragungen lässt sich folgern, auch intuitives Begreifen bei #Selfies funktioniert über vernetztes Verstehen und Analogien. Hier vermutlich allein auch schon über die Identifikation, weil sich jeder Mensch intuitiv in anderen Menschen wiederfinden und sich deshalb jeder Betrachter eines #Selfies intuitiv verbinden kann, unabhängig davon, ob er selbst bereits ein #Selfie aufgenommen und gepostet hat.

Zum anderen gehören #Selfies zum medialen Genres der Selbstporträts, die eine kulturell prägende Geschichte haben, so lang ist wie der Teil der überlieferten Geschichte der Menschheit. Ein erheblicher Teil aller kulturellen Kommunikation wurde von jeher darauf verwendet, sich selbst oder sich inmitten seiner Familie und Freunde darzustellen.

Beide Zuschreibungen zeichnen das analoge Selbstporträt genauso wie das digitale #Selfie aus. Unabhängig von der technischen Art ihrer Herstellung bilden Selbstdarstellungen immer soziale Währung, die gegen ideelle oder materielle Gegenwerte getauscht werden kann.

Welche Motivation steckt hinter #Selfies, warum porträtieren Menschen sich gerne alleine oder sich selbst inmitten einer Gruppe von Menschen? Eine einfache Antwort auf diese Frage ist: Selbstporträts liefern “soziale Währung”. Ihre Herstellung und Veröffentlichung gehört zu den kulturellen Techniken, mit denen Menschen etwas von sich öffentlich preisgeben, wir können auch sagen, etwas von sich öffentlich kommunizieren, um sich mit anderen zu vernetzen. Mit einem Selbstporträt kann man beispielsweise Insignien seiner Macht präsentieren, man kann seine soziale Zugehörigkeit kommunizieren, man kann anderen seine Gefühle erklären, man kann reflektieren, wer man ist oder wer man gerne sein würde, man kann sich vermarkten, oder man kann einen Moment seines Lebens mit anderen teilen, mit-tei-len. Im Tausch erhält man dafür Aufmerksamkeit, Informationen, Anerkennung, erfährt Integration und Teilhabe.

Mit Erfindung und Entwicklung der analogen Fotografie erreichten die kommunikativen Kulturtechniken des Menschen ein neues technologisches Level. Jetzt konnten Menschen so schnell und in technischer Perfektion wie niemals zuvor, Bilder, Texte und Informationen reproduzieren, vielfältigen, veröffentlichen.

Von Anfang an experimentierten und arbeiteten Fotografen dabei auch mit Porträts und Selbstporträts. Fast jeder Europäer hat heute das historische Bild eines Fotografen im Kopf, der hinter einem massiven Fotoapparat den Auslöser betätigt und dann schnell hinüber zur Gruppe rennt, um mit auf die Aufnahme zu kommen, die kurz darauf mit einem lauten Knall ausgelöst wird. Die Entwicklung des einzelnen Foto machte anschließend dann noch komplexe chemische Prozesse im abgedunkelten Fotolabor notwendig. Der erste gebräuchliche Real-time Fotoapparat kam 1947 auf den Markt, wie bei starken Pioniermarken üblich, wurden die papiernen Fotos als Polaroid, unter dem Namen der Technologiefirma, bekannt.

Heute funktioniert digitale Fotoproduktion elegant, denn geräuschlos und gefühlt in Lichtgeschwindigkeit, ohne dass es notwendig wäre, den digitalen Apparat zu verlassen oder ein analoges Produkt zu erstellen. Wir tippen elegant mit unserem Finger auf die Oberfläche unseres Smartphones, zuerst um den #Selfie-Modus zu aktivieren und anschließend, um das Foto auszulösen. Schon ist das digitale Foto erstellt, abrufbar in der Camera Roll unseres Smartphones und kann sofort in Messengers Diensten und Sozialen Medien öffentlich geteilt werden.

Aber innovative technologische Entwicklungen ereignen sich wie die biologische Evolution in einer Kombination von parallelen Prozessen, die alte und bewährte Elemente mit neuen verbinden, agiler, vernetzter und schneller machen für eine dynamische digitale Welt.

Eine Technik aus der alten analogen Welt gibt es auch heute noch: den kompakten Fotoautomaten, den man betreten muss. Er st eht auf breiten Überführungen wie der Warschauer Brücke in Berlin, oder im Untergeschoß der U-Bahn im Hauptbahnhof in Stuttgart oder in einem Kaufhaus in derKölner Innenstadt.

Hier tritt man ein, verschwindet dabei hinter einem immer zu kurzen Halbvorhang, nimmt Platz auf einem wackligen Drehhocker und prüft den Anblick des eigenen Gesichts in einer von vielen Fingerabdrücken befleckten matten Glasscheibe. Dahinter wartet das Kameraauge auf Auslösung. Nach viermaligem Blitzlicht verlässt man das Innere des Automaten wieder und wartet draußen, bis der Ausgabeschacht den Fotostreifen mit vier Selbst-Abbildungen ausspuckt.

 

Diese Fotoautomaten waren ursprünglich besonders für preiswerte, schnell gemachte Passfotos geeignet. Auch heute sind etliche der Automaten auf amtsgültige biometrische Passfotos digital umgerüstet worden, sie bieten LCD Oberflächen mit multilingualer Sprach- und Textunterstützung sowie einer Auswahl unterschiedlicher Formate an.

Doch der eigentliche Reiz begehbarer Fotoautomaten liegt für Nutzer in ihrer nostalgischen und spontanen Funktionalität. Die heute als Requisit aus einer vergangenen Epoche wirkenden Automaten werden gerne zur Unterhaltung genutzt, stehen auf Messen und Partys, Modeschauen und Kunstevents zur Verfügung für spontane Selbstaufnahmen von sich küssenden Pärchen, Fratzen ziehenden besten Freundinnen, oder Freundescliquen, zu dritt, zu viert, zu fünft quetschen sie sich vor die kleine Glasscheibe im Inneren des Automaten.

Neben diesen Automaten für kleinformatige Fotos, gibt es seit 1972 mit der einzigartigen “Imago 1 zu 1” auch noch die größte begehbare Großformatkamera, in die Menschen eintreten und #Selfies in ganzer Person fotografieren können. In Berlin-Kreuzberg steht am Moritzplatz davon noch ein Exemplar. Inzwischen hat Imago eine viel größere begehbare digitale “Imagotour” Kamera entwickelt, die von Einzelpersonen und Gruppen gebucht werden kann, auch für Teambuilding Prozesse.

Spontane Ein-Bild-Geschichten nutzen den Fotoautomaten wie ein Relikt, eine Vorahnung der nicht-linearen Massen-Selbst-Kommunikation, wie der amerikanische Soziologe und Historiker Manuel Castells die digitalen Kommunikationstechniken in der Netzwerkgesellschaft heute nennt. Der nicht-linearen Massen-Selbst-Kommunikation stellt er die lineare Massen-Kommunikation der Informationsgesellschaften des 20. Jahrhunderts gegenüber, die viele von uns noch aus eigener Anschauung kennen. Alte und neue Medien erreichen zwar beide ein Millionenpublikum, sind Massenmedien. Doch analoge und digitale Medien und die durch sie ermöglichten Kommunikationstechniken haben sonst in Technologie und Anwendung nur noch wenig gemeinsam.

Allein Geschwindigkeit, Echtzeit, Reichweite, Personalisierung, Angebot an Plattformen und Netzwerken in der digitalen Sphäre zeigen die Unvergleichbarkeit beider Technologien. Im Digitalen werden nun die Mediennutzungsgewohnheiten wichtiger als die Technologie des binären Codes. Hieß das Motto der analogen Sphäre dem Medienphilosophen Marshall McLuhan zufolge “The medium is the message”, transformiert es heute zu “The message is the medium”, so Manuel Castells. Welche Geschichten wir wann und wie und auf welchen Plattformen teilen, erzählt heute mehr über uns und unsere Mediennutzung als über die Technologie dahinter.

 

In der Geschichte der Menschheit sind es Grenzerfahrungen in Zusammenhang mit fortschrittlichen Entdeckungen, die “einen umhauen” und für die ein “die level of progress-Unit” (DPU), ein “Gradmesser tödlicher Fortschrittserfahrung” erfunden worden ist. Die Real-time Geschwindigkeit beim Prozessieren von Energie und Informationen sowie die Überwindung räumlicher Territorien sind zu maßgeblichen Gradmessern für Innovationen und Fortschritt geworden. Gleichzeitig werden Geschwindigkeit und schiere Menge der geteilten und zugänglichen Informationen zu einer Herausforderung für menschliche Aufmerksamkeit, Verstehen, Vermitteln und Transferleistungen in Wissen und Kommunikation dar.

Wir können uns leicht vorstellen, dass ein DPU lebensbedrohlich sein würde, falls ein Mensch des Mittelalters sich von einem Moment auf den anderen in unserer digitalen Gesellschaft zurecht finden müsste. Müsste ein Mensch des Mittelalters nicht den Eindruck gewinnen könnte, viele unserer Dinge seien “unsichtbar” und wir sprächen mit “Geistern”? Denn, wie der amerikanische Technologie-Journalist Benedict Evans einen Vortrag nannte, “Mobile is eating the world”, Dinge verschwinden und werden durch Virtual und Augmented Reality ersetzt. Oder umgekehrt, was für ein DPU wäre das, wenn wir von einem Tag auf den anderen unter den langsamen, lauten und wenig komfortablen Umständen in einer mittelalterlichen Stadt überleben müssten, ganz zu schweigen vom Land.

 

Am Beispiel der Social Media Video-Plattform Youtube können wir wir erkennen, dass die Geschwindigkeit von Innovationen und ihrer Verbreitung heute auf ein neues Minimum von 1/1 gesunken ist. Die Entwicklung der Plattform dauerte etwa 12 Monate, danach dauerte es etwa genauso lang bis sie ihre Reichweite von täglich über dreißig Millionen gestreamter Videos erreicht hatte. 

Die digitale Technologie gleicht einem revolutionären Quantensprung in unseren Gesellschaften auf dem historischen Weg von der Industriegesellschaft in die Informationsgesellschaft und jetzt in die digitale Netzwerkgesellschaft. Ein maßgeblicher Strukturwandel der digitalen Entwicklung ist unter anderem “der Tod der Masse” beziehungsweise der “Tod des Massen-Geschäftsmodells”, wie es Jeff Jarvis, amerikanischer Bestseller-Autor (“What would Google do?”) und Journalismus-Professor an CUNY, formuliert: “Death to the mass media business model”.

Jarvis betont, dass das Internet nicht etwa unsere Aufmerksamkeitsspanne oder den Journalismus töte, sondern das Geschäftsmodell, das darauf basiert, Informationen und Botschaften an eine anonyme Masse zu vermitteln, die nicht gefragt wird, was sie will. Das Modell der linearen, quasi monologischen Massenmedien sei tot. Geschäftsmodelle und journalistische Formate für die interaktive und disruptive digitale Kommunikation müssten erst erfunden werden. Nach Jarvis sollten wir alle “Werwolf spielen” und uns ins Abenteuer digitalis stürzen.

 

Auch vor diesem Hintergrund erscheint es mir relevant, die Bedeutung des ständigen öffentlichen “Ich”-Sagens und des neuen Gewichts der “Ich”-Perspektive zu erkunden, die in den täglich weltweit millionenfach geposteten #Selfies zum Ausdruck kommt, aber auch im Mobilen Journalismus, in dem der Reporter im “On” der Story agiert. 

Ähnlich wie die Selbstspiegelung in Selbstporträts ist das “Ich”-Sagen in #Selfies nicht komplett neu, auch in der prae-digitalen schriftlichen und verbalen Kommunikation gehört das Personalpronomen “Ich” zu den am häufigsten verwendeten Worten in der deutschen Sprache.

Grundlegend neu ist in digitalen Medien, dass jeder Nutzer eigenständig entscheiden kann, wann er welche Inhalte und auf welchen Plattformen nutzen will. Über beispielsweise verschiedene Tagesschau-Apps, darunter die “Tagesschau in 60 Sekunden”, können Nutzer sich jetzt jederzeit in den Nachrichtenzyklus einklinken und interaktives Feedback in Kommentaren oder Foren für Innovative Ideensammlungen geben.

Diese interaktive und kollaborative Ko-Produktion von Nachrichten und Content  schreibt Nutzern eine kommunikative Selbst-Ermächtigung zu, im Englischen “empowerment” genannt. Heute können Nutzer selbst entscheiden, welche Inhalte sie wann in den disruptiven, nicht-linearen und interaktiven Medien rezipieren, und welche Inhalte sie selbst wann und wo und mit wem teilen wollen. Diese Entwicklung wird mit der sich zukünftig immer weiter verbreitenden Personalisierung von Content und Streams weiter zunehmen.

Schon 2012 beschreibt der irische Journalist Markham Holan in einem TED-Talk “How to separate fact and fiction online”, dass Journalisten inzwischen in der digitalen Sphäre auf ihre Nutzer reagieren und die Beziehung zu den Nutzern alles entscheidet, und nicht umgekehrt, wie früher, die Nutzer auf die Nachrichten reagieren. Deshalb, so Holan, besteht eine neue Herausforderung darin, den Online Content zu verifizieren und Techniken zu entwickeln, die sicherstellen, dass Newsrooms schnell und verlässlich, glaubwürdige Quellen und belastbare Fakten identifizieren, vernetzen und verifizieren können.

 

In der digitalen Netzwerkgesellschaft und ihrer nicht-linearen Massen-Selbst-Kommunikation, wird die visuelle Selbstvergewisserung zu einer allgemeinen Kulturtechnik und einem kommunikativen Modus, dem “#Selfie”. Die früheste Verwendung des Wortes „Selfie“ im Internet kann für das Jahr 2002 in Australien nachgewiesen werden. 2013 wurde das Wort „Selfie“ zu einem alltäglichen Begriff und erhielt Einzug in die Online-Version des Oxford English Dictionary, das es sogar zum „Wort des Jahres 2013“ erklärte.

           

#Selfies haben sich durchgesetzt als die digitale Kulturtechnik, mit der Menschen Momente spontaner oder auch inszenierter Gegenwart miteinander teilen. #Selfies sind dabei nicht allein “soziale Währung”, mit deren Hilfe sich Nutzer mit anderen vernetzen, sondern auch “gesellschaftlich und politisch relevante Währung”, mit der Nutzer Informationen mit anderen Nutzern und Newsroom in Echtzeit teilen. Demzufolge ein Modus des Ich-Sagens, der einerseits soziales Bindungsinteresse - ‘ich zeige mich dir und erzähle dir einen Moment von mir’ - und anderseits Glaubwürdigkeit - ‘ich stehe ein für diese Ein-Bild-Geschichte’ - kommuniziert. 

 

Vor diesem Hintergrund definiere ich #Selfies als digitale Sprechakte gelingender Kommunikation. Der Austausch zwischen selbstbewussten Individuen in selbstgewählten Gemeinschaften, “communities”. Sie knüpfen unverkrampft und direkt an die jahrtausendealte Tradition “individuell vernetzter kollektiver Öffentlichkeit” an. Der Historiker Tom Standage beschreibt in seinem Buch “Writing in the wall. Social Media the first 2,000 years” (2013), wie intensiv privater und politischer Austausch in strukturierten Foren bereits in antiken Gesellschaften funktionierte.

Was wir heute als Facebook, Instagram, Twitter und Snapchat kennen, finden wir schon in zirkulierenden papierenen Dossiers oder grellbunten Graffiti auf Gemäuern, die aus der griechischen und der römischen Antike überliefert sind. #Selfie-Gedichte und Liedtexte in Ich-Form spielen bereits eine wichtige Rolle in antiken Foren. Gerüchte, Liebesschwüre und Vertrauensbekundungen: Foren, Communities und öffentliche Oberflächen wurden als soziale Plattformen genutzt, um “soziale Währung” auszutauschen und private und politische Allianzen zu schmieden.

 

Foren wurden aus drei maßgeblichen Gründen genutzt: Um sich selbst zu vermarkten, um sich beruflich zu vernetzen, und um Wissen zu teilen. Auch waren Privatheits-Einstellungen von Anfang an ein wesentlicher Faktor für soziale Plattformen, in denen sich Individuen an ein selbst reguliertes Kollektiv richten und den Zugang selbstbestimmt managen. Ein solches Kollektiv, eine solche Community nennen wir heute Zielgruppe in der digitalen Sphäre. Individuelle Mediennutzer verschwinden nicht in einer anonymen linearen Masse, bei der alle immer zur gleichen Zeit vor Radio- und Fernsehapparaten sitzen.

Von heute aus gesehen, erscheinen die linearen Massenmedien des 20. Jahrhunderts wie ein machtvolles Konzept einer historischen Zwischenzeit. Die darin aufwuchsen, wundern sich, dass der Massenbegriff aus den linearen Massenmedien, nicht das notwendige Phänomen ist, als das es lange Zeit galt. 

 

Digitale soziale Netzwerke und digitales Storytelling beenden das Zeitalter der Informations-Gatekeeper, die ihre Privilegien verlieren und sich massiv dagegen wehren. Der Widerstand gegen interaktive und flüssige Medienproduktion und Nachrichtendisruption ist Thema in jedem Medienhaus weltweit. Moderatorin Michelle Li formuliert das 2016 im Gespräch mit dem Journalisten Tim Cigelske so: “People want to have real-time access to information as well as to the people delivering that information. They want to follow up with questions and share their opinions. People don’t want to hear from news anchors shouting down from a mountain top. They want real people telling real stories.”

 

 

Bei diesem Veränderungsprozess nehmen #Selfies die Rolle eines Leuchtturms ein, sie sind digitale Aufmerksamkeitsanker und leisten digitales Storytelling par excellence: Ein-Bild-Geschichten, die Komplexität auf ein einfaches Visual und wenige Wörter reduzieren, erzählt von einem Ich oder #Selfie, in Echtzeit, authentisch, interaktiv, ganz nah dran, mit dokumentarischem Wert. Sie sind wie visuelle Tagebucheinträge in Echtzeit  und schreien: “Jetzt, jetzt, jetzt”, wie es der Künstler Jerry Saltz formuliert.

Die neue Gewichtung des #Selfie-Journalismus wird zuallererst im Mobilen Journalismus und beim Real-time reporting deutlich, die mit dem Nachrichtenzyklus in Sozialen Medien arbeiten. Informationen in Real-time, in Echtzeit zu veröffentlichen, sollten wir nicht mit “Breaking News” verwechseln. Denn Ziel ist eine qualitätsvolle Berichterstattung, die sozial relevant und user-orientiert funktioniert. Auch angesichts neuer Entwicklungen von künstlicher Intelligenz im Journalismus, werden dabei diese grundlegenden journalistischen Kompetenzen benötigt, die kein intelligentes System ersetzen kann: Glaubwürdigkeit - Kreativität - Empathie. Alles Eigenschaften, die im #Selfie-Modus zum Ausdruck kommen und das neue journalistische Genre des #Selfie Journalismus begründen.

 

Was #Selfie-Journalisten zukünftig auszeichnen und von Intelligenten Maschinen unterscheiden wird, sind Kompetenzen, die aus der analogen Sphäre stammen und mit neuen Techniken und Werkzeugen in der digitalen Sphäre kombiniert und transformiert werden: Irrelevante und falsche Fakten und glaubwürdige Quellen und Influencers herausfiltern, einprägsame Details erkennen, Gefühle haben, Mitgefühl zeigen, sowie eine sehr gute, klare Sprache beherrschen, ein Narrativ bauen, eine Geschichte erzählen, kritisch denken.

 

Als einer der ersten Journalisten weltweit, erforscht Yusuf Omar, Leiter Mobile Journalism bei “Hindustan Times” in New Delhi, erforscht Yusuf Omar, Mobile Editor bei Hindustan Times in New Delhi, die Möglichkeiten von Snapchat als journalistischem Werkzeug und Content Produktionsplattform. Snapchat ist das kreativste aller bisherigen Social Media Netzwerke und zeichnet sich - bisher - durch eine radikale Verwendung von Echtzeit Anwendungen sowie Artificial Intelligence aus. Beispielsweise in Form einer Gesichtserkennung-Software, die im Selfie-Modus verspielte Filter über Gesichter legt, beispielsweise verrückte Perücken, übertriebene Schminke oder Katzengesichter.

 

Im Juli 2016 veröffentlichte Omar Interviews mit indischen Frauen, die über erlittenen sexuellen Missbrauch berichten. Um die Privatsphäre der Frauen zu schützen und sie zu ermutigen, ihr Trauma zu erzählen und mit einer breiten Öffentlichkeit zu teilen, erarbeitete er einen innovativen Weg, indem die Frauen die AI-Filter in Snapchat nutzen.

Jede der interviewten Frauen suchte sich ihren eigenen Filter aus, der ihre Identität zwar spielerisch verbirgt, jedoch die Emotionen sichtbar lässt. In professionell produzierten Mobile-Videos, erzählen die Frauen ihre Geschichten vor der Weltöffentlichkeit und gewinnen so auch Kontrolle über ihr Leben zurück.

Anschließend berichtete Yusuf Omar über seine Erfahrungen mit Snapchat auf dem Open-Source Blog “Medium” und im Gespräch mit der BBC und zahlreichen anderen Newsrooms. Bei einem Vortrag zu Snapchat und Facebook Live in London am 15.8.2016 zeigte er sich überzeugt: ”Es geht darum, mit allen Plattformen zu experimentieren und sie nicht vom ersten Anschein her zu beurteilen. Wenn du Snapchat auf den ersten Blick beurteilst, ist das für Teenagers, die Fotos von Nackedeis teilen. Du muss weit darüber hinweg sehen, du musst herausfinden, wie kann ich diese Technologie für journalistisches Storytelling einsetzen.” (Übersetzung MEM)

In Omars Arbeit wird das soziale und politische Gewicht des “Ich”-Sagens und des #Selfie-Modus sichtbar, das ihnen in der digitalen Massen-Selbst-Kommunikation zuwächst. Das Genre des Selfie-Journalismus stehe erst am Anfang seiner Entwicklung. Es könnte eine der spannendsten Hybridformen in professioneller und User Kommunikation werden.

 

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