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Beiträge Thomas Kuchenbuch |
Prof. Dr. Hans J. Wulff aus Kiel schreibt: Die Frau auf den Schienen. Eine Etüde Thomas Kuchenbuch zum Geburtstag Geschichten sollen spannend sein. Was macht sie spannend? Kontextvariation ist eine elementare semiotische Technik, mittels derer Sinnhorizonte ausgelotet werden können. Man kann den dramatischen Potentialen einfacher Szenen nachspüren oder die Affinität von Szenarien zu genretypischen Kontexten erproben und dergleichen mehr. Will man an die relevanten Daten und Bestimmungen gelangen, die eine Szene spannend machen, so bringt die Veränderung des Materials Einsichten und Anlässe zum nachdenken. Man gewinnt Einsicht in das Arsenal der dramaturgischen Techniken, die dem Erzähler zur Verfügung stehen, um den Zielaffekt zu steuern, ihn zu stabilisieren, das Gefühl zu intensivieren oder auch zu irritieren. Die Technik der Variation und Expansion von Kontexten bietet sich also als eine durchaus geeignete Methode an. Hören wir Jose und Brewer mit einem Beispiel:
Das Beispiel zeigt, dass die Szenenbeschreibung „Eine Person im Wald“ kein Spannungsszenario exponiert, die Beschreibung „Eine Person, die sich im Schneesturm verirrt hat“ dagegen wohl. Hier schließt sich der Kreis: „Spannend“ erscheint eine Lagebeschreibung dann zu sein, wenn sie einen Protagonisten in einer Problemsituation darstellt, in der die Person in großer Gefahr schwebt. Die Situation darf nicht abgeschlossen sein; vielmehr ist sie am vollständigsten und effektivsten, wenn Problem und Gefahr gerade in aller Deutlichkeit exponiert worden sind. Der Zuschauer extrapoliert aus solchen Lagebeschreibungen einen Problemlöseraum und baut ein Erwartungsfeld auf, in dem die möglichen weiteren Entwicklungen der Situation vorauskalkuliert und gewichtet werden. Offenbar ergibt sich hier eine Korrespondenz zwischen den Zuständen der erzählten Welt und den gedanklichen Aktivitäten von Zuschauern: Denn natürlich befinden sich auch die abgebildeten Personen in einer Problemsituation, auch sie müssen den weiteren Verlauf abschätzen und sich darauf bezogen verhalten. Ähnliches gilt für alle anderen Arten der affektuellen Bindung. Natürlich: Die Schließung ist mehrfach strategisch orientiert. Das hat mit der zeitlichen Dimension der Affekte zu tun: Ein Affekt kann sich nur ausbreiten, wenn der Zuschauer die gegebene Information auf die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten hin abklopft. Wehmütige Trauer über eine auseinander gegangene Liebe kann nur dann zum dominierenden Affekt werden, wenn einer der beiden Partner tot ist, für immer in der Fremde verloren ging oder sich gar als Geschwister des anderen herausstellt. Ist der eine der beiden aber nur schmollend und gekränkt davongegangen, besteht weiter Hoffnung auf ein erneutes Zusammenfinden des Paares. Und eine metadramaturgische Komponente ist auch noch im Spiel. Es macht einen Unterschied, ob ein Konflikt am Anfang, in der Mitte oder am Ende einer Geschichte steht. Steht er gegen Ende der Geschichte, darf der Zuschauer erwarten, dass der Knoten eng geschürzt wird, daß das Geschehen sich dramatisch zuspitzt und das alles auf eine terminale Lösung hinauslaufen wird. Am Ende einer Geschichte darf man auch eine letzte Straffung der affektuellen Erregungskurve erwarten, das gehört zur Dramaturgie dazu. Wie lässt sich dieses operationalisieren? Mit einfachsten und eigentlich naheliegenden Mitteln. Ich zeige meinen Probanden den Anfang eines Films. Sie sollen zusammenfassen, was sie gesehen haben – und sie sollen den weiteren Fortgang und den Schluss des Films entwerfen/erfinden. Ich variiere die Angabe darüber, wie lang der Film ist; die erste Gruppe hört, dass es sich um einen 50- oder 60minütigen Fernsehfilm handele, die zweite wird dagegen auf einen 90-Minüter vorbereitet (zuzüglich der Werbeunterbrechungen). Ich hoffe, dass für die ersten der Punkt erreicht ist, in den showdown einzusteigen und das tatsächliche Ende zu skizzieren; ich hoffe, dass für die zweite Gruppe die folgende Entwicklung nur ein Durchgangsstadium ist, dass also auch die Affekt-Tendenzen der Erzählung auf ein weiteres Danach orientiert sind. Es wird nötig sein, die Instruktion sehr genau zu formulieren (Beschreiben Sie die nächste Szenenfolge! Beachten Sie die Länge des Films!). Gegeben sei das folgende Grundszenario, ein einziges Bild: Eine junge Frau liegt bewusstlos auf einer Eisenbahnschiene. Wie schon gesagt: Das Bild soll hier als Ausgangspunkt für das Bilden von Hypothesen, den Entwurf von Erwartungen dienen – es ist aber auch in die andere Zeitdimension der Erzählung geöffnet: Wie kommt die junge Frau in diese Lage? Wer hat sie auf die Schienen gelegt? Welcher vorangegangene Konflikt kann eine derartig drastische Konsequenz haben? Die Vorgeschichte des Bildes ist mindest so interessant wie die Frage, was weiterhin geschehen wird. Wird nur das Ausgangsszenario unseres Gedankenspiels angeboten, nichts geschieht, wird der Zuschauer also auch nicht nur gelangweilt sein, richtet sich seine Neugierde eher auf das Vorhergehende denn auf die Szene selbst. Diese Dimension einer fragenden Aneignung des Bildes bleibt in allen anderen Varianten erhalten.
Natürlich: die Interpretation derartiger Szenenbilder fußt ganz wesentlich auf einem allgemeinen und diffusen Weltwissen. Es umfasst Wissen über Routinen und Orte, über die Sinnhorizonte des Handelns, über die Realität des Wünschens, über Institutionen und Normen, kurz über alles, das zum normalen Wissen gehört. Dazu gehört auch das Wissen um die narrativen Potentiale von Objekten und Szenen, das ist für unseren Zweck wichtig. Jemand, der zur Wohnungstür herausgeht, wird kurze Zeit später wahrscheinlich auf der Straße sein, und möglicherweise wird er dann zur U-Bahn oder zum Auto gehen. Routine eben. Hierzu ist auch Bordwells Beispiel des Radwechsels sehr treffend: „Sie fahren auf der Landstraße und sehen ein Auto mit einem platten Reifen; ein Mann öffnet gerade den Kofferraum des Autos. Ohne jede bewusste Überlegung nehmen Sie an, dass er der Fahrer ist und dass er Werkzeug und Ersatzreifen oder beides aus dem Kofferraum herausnehmen wird“ (Bordwell 1992, 6). Weltwissen als das Naheliegende und das Normale. Aber die Normalität hat Ränder, Schnittstellen in das Reich der Geschichten. Der zur Wohnungstür Herausgegangene trifft auf ein Mädchen, das seinen Alltag durcheinander bringt und ihn am Ende zu einem anderen macht. Der Radwechsler ist auf der Flucht, er wird einen Polizisten erschießen und am Ende selbst tot sein. Auf die Ränder des Normalen zielt das Erzählen, Erzählung und Drama setzen das Unspektakuläre des normalen Lebens voraus – und auch Variationsübungen spielen so mit den Bedingungen der Normalität und ihrer Überschreitung.
Die ersten vier Varianten handeln im engeren Sinne von einem szenischen Verstehen, richten sich zum Teil sogar nur auf die Kalkulation von Geschehensentwicklungen. Ein sozialer Horizont ist nicht sichtbar, schon gar nicht ein Horizont von Sinn – er würde narrative Kontexte voraussetzen. Natürlich wird Weltwissen genutzt (es macht einen Unterschied, ob die Eisenbahnstrecke im Emsland ist oder in einer mexikanischen Wüstengegend). In der Technik der Variation schaffen diese minimalen Differenzen aber schon einen Einblick in elementare Strategien des Antizipierens, in dramatische Strukturen, die auf einer Ebene unterhalb der Erzählung angesiedelt sind. Andere Variationen decken andere Ebenen des Erwartens und Verstehens auf. Sie zeigen am Ende vor allem, dass das Sinnverstehen der kleinen Szene mit einem Wissen über die Bauformen des Dramas, über die Rhythmen der Erzählung, über die funktionalen Rahmen einzelner Elemente der Erzählung und der Dramatisierung überhaupt durchsetzt ist.
Tatsächlich sind diese strukturellen Festlegungen und Binnennormen der Erzählung äußerst stabil. Dass in der Mitte des Films ein Protagonist stirbt (wie in Hitchcocks PSYCHO oder in Spielbergs ALWAYS), ist bis heute der klare Ausnahmefall. Und auch die End-Tode von Protagonisten lassen sich genauer bestimmen – da sind solche Anti-Helden, deren Tod als allerletzte Information die Anklage gegen das Unrecht, die Kaltherzigkeit, die Macht nur noch unterstreicht, den Zuschauer erst recht in seinem Unrechtsbewusstsein anzusprechen. Und da sind andere Protagonisten (zumeist in melodramatischen Geschichten), deren Tod der Anlass ist für die Darstellung der Bewegung der Trauer und des Verlustes (wie in LOVE STORY oder auch in PHILADELPHIA), gebunden also in die Reaktion einer zweiten, noch lebenden Hauptfigur. Auch dieser – melodramatische – Tod der Hauptfigur erweist sich also als funktionaler Tod, der die sentimentalische Antwort einer anderen Figur anregt und erzwingt, die wiederum Teil einer empathischen Aneignung durch den Zuschauer werden kann.
Es ist also nicht allein die makrostrukturelle Position einer Szene am Anfang, in der Mitte oder am Ende einer Geschichte, sondern auch die dramaturgische Funktion der Figur als Neben- oder Hauptfigur sowie das Wissen um die generische Qualität der Geschichte, die die Füllung der hypothetisierenden und antizipierenden Tätigkeit der Rezeption beeinflusst. Manche Erwartensleistungen stützen sich allein auf strukturelle Konventionen der Erzählführung. Wenn am Beginn eines Films eine Nobelkarosse einen Mann vom Flughafen abholt, wenn die folgenden Bilder den Wagen auf dem Wege durch die Stadt Nizza und die malerischen Kulissen der Riviera zeigen, wenn die Bildfolge mit der Titelmusik unterlegt ist und wenn die Titelschriften die Bilder begleiten, dann darf allein auf Grund der Konvention, dass die Bilder eine der Hauptfiguren zeigen, erwartet werden, dass am Ende der Wagen vorfährt und diese Person aussteigen wird – die Handlung kann beginnen. Dass dieser Anfang auf elementaren Strukturen des „Monomythos“ (Jewett/Lawrence 1977) aufruht, sei nur am Rande erwähnt: es ist ein konventioneller Anfang, und Erwartungen sind allein auf der Basis der Geltung der Konventionen ohne weitere Indizien ableitbar. Wenn am Ende der Titelsequenz der Wagen explodiert, handelt es sich um eine Überraschung, weil die Geltungsbedingungen der Konvention außer Kraft geraten sind. Das Beispiel mag illustrieren, dass es Erwartungsmuster gibt, die nicht aus der substantiellen Information über die erzählte Szene, sondern allein der formalen Position einer Sequenz entstammen können.
Man kann dieses Spiel Möglichkeiten
noch weiter ausbauen und wird immer wieder auf die Tatsache stoßen,
dass die Operationen, die den Sinn des Geschehens erschließen
und so Antizipationen dessen, was noch geschehen mag, konstituieren
können, auf eine Hierarchie unterschiedlicher Sinnganzheiten ausgerichtet
sind – vor allem auf die beiden Kontextformen Szene und Geschichte.
Beide haben Charakteristiken der Gestalt an sich, beide haben einen
ganzheitlichen Charakter, beide sind funktionale Ganz-Dinge, deren Elemente
bestimmbar sind, weil die Gestalten festliegen. Beide sind auf das Ende
hin konzipiert, als Verlaufsgestalten, die klimakterisch
enden. Und beide unterliegen einer dramaturgischen Kontrolle, einer
Konvention, die die funktionalen Rollen der Redeteile beschreibt und
die selbst Teil des Wissens von Zuschauern ist, also auch in die Hypothesenbildung
eingearbeitet ist. Und es gibt noch einen weiteren medialen Rahmen,
der aus textübergreifendem Wissen besteht – Wissen um die
Besonderheiten des symbolischen Formats, um solche sekundären Systemen
wie Starsysteme usw. Keines der Teilsysteme des Wissens ist frei und
unabhängig von den anderen, jedes hängt mit jedem zusammen.
Antizipationen und Hypothesen haben ihren Grund in einer Hierarchie
geschichteter Bindungen, von Ganzheiten, die entworfen werden müssen,
von Konventionen und Wahrscheinlichkeiten sowie von Redefunktionen,
die den Sinn einzelner Redeteile erschließen können. Es müssen
also die folgenden Unterkategorien der Hypothesenbildung und der darin
involvierten Bereiche, Schichten und Formen des Wissens unterschieden
werden: Neben dem Man kann die Szene noch weiter ausbauen, indem man Geschlecht und Alter der Figur auf den Schienen variiert. Und die Cineasten unter den Studenten werden sich freuen, wenn sie Beispiele aus der Filmgeschichte suchen sollen, in denen einer oder eine auf den Schienen zu Schaden kommt oder gerettet wird. |
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