Prozessfähigkeit -  oder wie gut sind unsere Prozesse?

In vielen Branchen und Unternehmen stehen die Marketing-, Vertriebs- und Produktverantwortlichen vor grossen Herausforderungen. Kurze Produktlebenszyklen und vielfältige, neue Produkte machen schnelle, intensive und individuelle Marketing- und Vertriebsaktivitäten erforderlich.

Diese zeichnen sich beispielsweise durch personalisierte Werbung, durch Erschliessen von neuen Zielgruppen, oder durch intensiveren Kommunikationsbedarf am Point of Sale aus. Kampagnen werden überregional oder sogar global gelauncht, müssen aber oft lokalen Anforderungen angepasst werden. Dies hat zur sinnigen Bezeichung “Glocalization der Marktkommunikation” (“Globale” Kampagnen und “lokale” Märkte) geführt. Durch Hinzukommen neuer Märkte und zunehmender Fremdsprachen vermehrt sich nicht nur die Anzahl der Akteure, sondern auch der Kostenaufwand der Kampagnen steigt oft in der Folge exponenziell. Gleichzeitig wird das Zeitfenster - um in die Gewinnzone zu gelangen - wesentlich enger. Vor dem Hintergrund stagnierender Budgets und Personalresourcen ist daher die Schaffung einer deutlich höheren Marketingeffizienz zunehmend als strategische Aufgabe erkannt worden. Die Media Supply Chain, insbesondere das Zusammenspiel aller relevanten Prozesse muss daher effizient gestaltet und die Prozesse laufend optimiert werden, was uns zum Thema “Marketing-Prozessoptmierung” (MPO) und Produkt Informations Management (PIM) führt. Es gilt frei nach Michail Gorbatschow: Wer nicht reagiert, den bestraft das Leben: den bestrafen insbesondere die Kunden.

Der PIM-Fokus liegt auf Softwaretechnologie
Die heute verfolgten Ansätze sind oft stark vom Gedanken der Nutzung IT-gestützter Lösungen geprägt. Sie konzentrieren sich somit im wesentlichen auf Softwaretechnogie: Den Import von Produkt- und Stammdaten aus vorgelagerten IT-Systemen, den Einsatz zentraler Datenbanken für Media Assets, und die medienneutrale Datenhaltung für das Multichannel-Publishing z.B. in Print- und Webkanäle. Die heute am Markt verfügbare Softwaretechnologie hilft die Datenqualität gegenüber konventioneller Kampagnendurchführung  erheblich zu verbessern, da eine Zentralisierung der Daten ihre Integrität und Aktualität sichert. Webbasierte Zugriffskomponenten ermöglichen es Managern, Kreativen und Produktionern, während laufender Kampagnen dezentral auf Content, Zwischenstände und kreierte Medienassets zuzugreifen und Versionen, Änderungen und Zeitleisten zu beherrschen. Trotz der mittlerweile ausgereiften Softwaretechnologie wird allerdings die Schaffung der notwendigen organisatorischen und personellen Voraussetzungen für durchgängige Planungs-, Konzipierungs- und Umsetzungsprozesse in Marktkommunikation und Medienproduktion vielfach unterlassen.

Die heutige Situation gleicht oftmals einem aus zahlreichen Mitgliedern bestehenden Orchester, dessen Solisten zwar nahezu perferkt Ihre Instrumente beherrschen, dessen Zusammenspiel aber aufgrund schwieriger Abstimmung nicht wie gewünscht gelingt. Ist es denkbar Prozesseffizienz einfach nur dadurch zu erreichen, dass Softwarebausteine im Unternehmen eingeführt werden? Warum dies bezweifelt werden darf, wird im folgenden erklärt.

Medienbrüche und nicht abgestimmte Prozesse als Stolpersteine
Prozesse schlank, einfach und beherrschbar zu gestalten bzw. zu betreiben wäre das Ideal, doch wie sieht es hier in der Unternehmensrealität aus? Eine Studie der Hochschule der Medien in Stuttgart zeigte: Informationsverluste bemängelten fast 75%, unklare Verantwortlichkeiten sowie in Folge Doppelarbeiten fast 50% bzw. über 40% der beteiligten Unternehmen. Das klassische Phänomen “Medienbruch” (engl. media discontinuity) kennt man in fast jedem Unternehmen. Kunden- und Produktdaten werden beispielsweise in verschiedene  elektronischen Ablagen im Unternehmen verwaltet. Da erreicht uns “ausnahmsweise” das Fax oder die Mail eines Aussendienstmitarbeiters, der nicht “online” zugreifen kann, aber Daten aktualisieren will. Die Änderung wird jetzt ausgedruckt, erfasst und “händisch” neu eingepflegt. Schon haben wir Mehraufwand bzw. Doppelarbeit erzeugt: Zeit, Kosten und möglicherweise Informationsverluste, Fehler sowie ggf. Abweichungen vom Prozessstandard.

Die Experimente von Gardner und Ashby
Als Mark Gardner und Ross Ashby 1970 die Dynamik, die Stabilität und die Zuverlässigkeit komplexer Netzwerke und Systeme in Simulationen untersuchten, galt ihr Augenmerk nicht der Steuerung komplexer Marketingkampagnen oder der Suche nach Störgrössen bei der Medienproduktion. Warum sind diese Experimente aber so fundamental wichtig für unser heutiges Verständnis der Steuerung und des Managements von komplexen Prozessketten? Gardner und Ashby zeigten bereits 1970 durch Simulationsexperimente, dass ein komplexes Netzwerk sich grundsätzlich unzuverlässig, d.h. instabil und unvorhersehbar verhält, wenn:

  • Die Zahl der im Netzwerk interagierenden Instanzen über einen festgelegten Schwellenwert steigt, der insbesondere den Beginn eines “chaotischen” Verhaltens markiert 
  • Die Konnektivität, d.h. Verbindungsintensität der Instanzen gemessen im durchschnittlichen Kommunikationsaufkommen, über einen gewissen Toleranzwert steigt

Wenn man diese Erkenntnisse nun auf die Praxis des Zusammenspiels von Marketing und Medienproduktion überträgt, wird die herausragende Bedeutung der Arbeiten von Gardner und Ashby klar. In komplexen Werbemittelproduktionen kann schnell die Situation entstehen, dass bis zu 30 Instanzen, u.a. Mitarbeiter von Kreativagenturen, Satz-, Text- und Bildspezialisten, Übersetzer, Vorstufen- und Druckereimitarbeiter, Web-Designer und Logistikexperten in der Zeitleiste  “synchronisiert” werden müssen. Mit der Anzahl der Akteure steigt das Kommunikationsaufkommen, bei maximaler Konnektivität kann jeder mit jedem kommunizieren und der damit resultierende Aufwand steigt dramatisch. Man glaubt nun oft, durch Software, z.B. schnellere Kommunikations- und Mailingsysteme dieses auch vielfach als “Bull-Whip Effekt” bezeichnete Phänomen in den Griff zu bekommen, die eigentlichen organisatorischen Ursachen löst man allerdings hierdurch nicht.

Prozessfähigkeit als Voraussetzung für optimierte Prozesse
Mangelhafte Prozessfähigkeit hängt tatsächlich vielfach noch mit Medienbrüchen zusammen. Als Stufen der Prozessfähigkeit gelten heute:

  • Stufe 1: Initialer Prozess: Intuitive, experimentelle Abläufe, Ergebnisse variieren abhängig von den Mitarbeitern
  • Stufe 2: Wiederholbarer Prozess: “Black Box” innerhalb vieler Abläufe, nur wenige erfahrene Mitarbeiter kennen sich aus
  • Stufe 3: Definierter Prozess: Ablauf wird komplett dokumentiert, viele Mitarbeiter verstehen und leben Abläufe bzw. Aufgabeninhalte
  • Stufe 4: Gesteuerter Prozess: Zusätzlich werden übergreifende Kontrollstrukturen erkannt und angewendet
  • Stufe 5: Optimierter Prozess: Durch “Best Practise” können Abläufe und Kontrollstrukturen jetzt perferktioniert und laufend verbessert werden.



 
Abbildung: Ein sinnvoller Softwareeinsatz ist erst mit Stufe 3 und höher empfehlenswert.

Fazit
Es gibt starke Gründe anzunehmen, dass mangelnde Prozessfähigkeit einer der Hauptstörfaktoren darstellt, die es schwierig oder sogar unmöglich machen, effizient Prozessketten zu steuern und zu managen, ob nun aus der Sicht des Managements oder der Sicht der beteiligten operativen Akteure. Ist es denkbar, eine bessere Prozessfähigkeit einfach nur dadurch zu erreichen, dass PIM-Bausteine eingeführt bzw. Software über nicht saubere Prozesse gestülpt werden? Dies darf bezweifelt werden.

Die Prozesse schlank, einfach und beherrschbar zu gestalten bzw. zu betreiben, um zu viele interagierende Instanzen und ein unnötig expandierendes Kommunikations-aufkommen zu vermeiden – dies könnte als Fazit der Erkenntnisse aus den Arbeiten von Gardner und Ashby angesehen werden. Wir sollten uns also bewusst werden, dass wir vor einer Softwareeinführung zunächst mit einer besseren Prozessfähigkeit die Voraussetzung für eine durchgängige Media Supply Chain zu schaffen haben.

Weiterführende Informationen

Der Originalartikel von Prof. Thaler wurde 5/2009 veröffentlicht in der Fachzeitschrift PROKOM-report