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Thomas Kuchenbuch

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„Etwas anfangen“ mit der Geschichte eines anderen:
Modale Indikationen der fiktionalen Welt und des narrativen Diskurses am Anfang von Fassbinders FONTANE EFFI BRIEST

Ein Beitrag von Britta Hartmann

 

Einführung: Aufgaben des Filmanfangs

Thomas Kuchenbuch und ich teilen ein Interesse an Filmanfängen. An keiner Stelle des Films kommt man den schemabildenden, den Inferenzen anstoßenden und Hypothesen lenkenden Funktionen des Films besser auf die Spur als an seinem Anfang. Wie vermutlich einige unserer Kollegen haben auch wir wiederholt kleine Experimente durchgeführt, indem wir unseren Studierenden die Anfänge von Filmen vorgeführt und danach die Aufgabe gestellt haben: „Erzähle die angefangene Geschichte zu Ende“ (vgl. Kuchenbuch 2005, 209-21). Solche Weitererzählexperimente zeigen, in welcher Weise die fabulierenden Aktivitäten des Zuschauers die textuellen Angebote realisieren, aufgreifen und kreativ mit ihnen umgehen. Doch neben der Ebene der Handlungsentwicklung, die im Zentrum solcher Überlegungen stehen, umfasst die komplexe Textstruktur des Films weitere Ebenen und Register, wie ich im Folgenden darlegen werde.

Die kurzen Überlegungen zu Rainer Werner Fassbinders FONTANE EFFI BRIEST, die hier vorgestellt seien, entstammen einem größeren Forschungsprojekt zur Pragmasemiotik und kognitiven Dramaturgie des Filmanfangs. Mir geht es darum zu zeigen, wie Filmanfänge die regulierenden ‘Rahmen errichten’, ‘die Spuren auslegen’ und darüber die rezeptiven Prozesse strukturieren und bahnen. Anfänge machen die Zuschauer mit der erzählten Welt und den Prämissen der Geschichte vertraut, sie führen die Strategien des narrativen Diskurses und den filmischen Stil ein, und sie begründen das pragmatisch-kommunikative Verhältnis (vgl. Hartmann 1995). Solcherart sorgen sie für die Ausrichtung auf den Film in kognitiver und affektiver Hinsicht – eine Leistung des Anfangs, die hinausweist über die Anleitung des „Geschichten-Verstehens“, wie es die kognitive Filmtheorie in Folge von Bordwells (1985) und Branigans (1992) filmnarratologischen Ansätzen modelliert. Von dieser Perspektive aus betrachtet dient der Anfang von FONTANE EFFI BRIEST als ein so interessanter wie exemplarischer Fall, denn der Film blockiert eine primär auf die zu erzählende Geschichte orientierte Wahrnehmung, kehrt stattdessen das „Wie“ der Erzählung, den narrativen Diskurs, hervor und legt so einen andersartigen rezeptiven Modus nahe. Die nachfolgenden Anmerkungen zielen daher nicht auf Interpretation dieses eigenwilligen Films, fragen auch nicht daran, ob diese filmische Umsetzung des Stoffes der Romanvorlage „gerecht“ wird oder nicht („Der Film nach der Literatur ist Film“, hat Knut Hickethier [1989] kategorisch formuliert, ein eigenständiges Werk mit spezifischer medialer und textueller Charakteristik, das nicht an seiner ‘Vorlage’ zu bemessen ist). Vielmehr sollen sie dazu beitragen, die Rahmen setzenden Funktionen von Filmanfängen zu spezifizieren.

Programmatik: Literatur als Thema des Films

Fassbinders Adaption von Theodor Fontanes berühmtem Roman des deutschen Realismus(1) unterscheidet sich radikal von der gängigen Praxis der Literaturverfilmung zur Zeit des Neuen Deutschen Films(2), wie in zahllosen Arbeiten zum Film und zu Fassbinder immer wieder betont wurde(3). Mit FONTANE EFFI BRIEST verfolgte der Regisseur eine Form der Auseinandersetzung mit Literatur im Medium Film. Diese Programmatik hat er bereits während des Produktionsprozesses deutlich herausgestellt. Es gehe ihm nicht darum, erklärte er in einem Interview (Brocher 1973), die bekannte Story von Effi Briest nochmals zu erzählen, sondern er wolle Fontanes Roman selbst verfilmen(4). Dem fertigen Film solle man anmerken, „daß das eine von jemand einmal erzählte Geschichte ist“. Interviews wie dieses dienen gleichsam als paratextuelle (genauer: epitextuelle; Genette 2001, 12f) ‘Gebrauchsanweisungen’; sie sollen dem Publikum vermitteln, wie der Film zu ‘lesen’ sei. Der Anfang des Films kehrt seinen speziellen referentiellen Bezug deutlich hervor. Ich spreche bei diesem Segment übrigens ausdrücklich nicht von der „Exposition“ des Films: Weil hier keine Exposition stattfindet, sondern der Zuschauer mit dem ästhetischen und politischen Programm des Textes gleichsam „konfrontiert“ wird (vgl. Hartmann 2001).
In meinen Ausführungen konzentriere ich mich auf die Titelsequenz des Films und die sich daran anschließende Eröffnungssequenz (ungefähr die ersten fünfeinhalb Minuten) und spezifiziere daran, wie sich der Film, mit Francesco Casetti (1995, 118) gesprochen, „sichtbar macht“. Die Initialphase(5) des Films erstreckt sich tatsächlich über einen längeren Abschnitt, aber für eine kurze Demonstration der narrativen und enunziativen Strategien im Prozess ihrer Initialisierung und Entfaltung erscheint mir dieses Teilstück des Filmanfangs ausreichend. Es gliedert sich wie folgt:

Titelsequenz: Schwarze Typographie auf weißem Hintergrund, beginnend mit der Produktionsfirma „Tango Film”, gefolgt vom Haupttitel des Films und seinem langen Untertitel, danach die Credits für die Schauspieler und den Produktionsstab, endend auf: „Ein Film von Rainer Werner Fassbinder“.

Erste Szene (Einstellung 1): Eine lange, unbewegte Einstellung des Gutshauses „Hohencremmen“ [Abb. 1], darüber eine Voice-Over-Stimme, die die ersten Sätze aus Fontanes Roman vorliest.

Abb.1

Zweite Szene (Einstellung 2): Effi mit ihrer Mutter im Garten, Effi auf der Schaukel, während ihre Mutter zu ihr spricht [Abb. 2]. Als Effi von der Schaukel herunterspringt und zu ihrer Mutter läuft, um diese zu umarmen, folgt die Kamera ihrer Bewegung in einer kurzen diagonalen Begleitfahrt.

Abb. 2

Erster Zwischentitel: Schwarze Buchstaben in gothischer Typographie auf weißem Hintergrund: Eine Geschichte mit Entsagung ist nie schlimm.

Dritte Szene (Einstellung 3): Effi und zwei ihrer Freundinnen draußen an der Schaukel, angeordnet in einer Dreieckskomposition [Abb. 3]. Effi erzählt den beiden Zuhörerinnen von Major Instettens unerfüllter Liebe zu ihrer Mutter vor vielen Jahren. Aus dem kurzen Dialog geht hervor, dass Instetten beabsichtigt, Familie Briest einen Besuch abzustatten.

Abb. 3

Vierte Szene (Einstellungen 4-8): Einstellung 4: Effi mit ihrer Mutter in der Diele des Hauses. Die beiden stehen unbeweglich auf der Treppe, gezeigt wird dies als Reflexion in einem Spiegel [Abb. 4], darüber liegt die Voice-Over-Stimme, die aus dem Roman vorliest. Vater Briest und Instetten treten ein, bleiben stehen, und dann geht Effi die Treppe hinunter, um den Besuch zu begrüßen. Einstellung 5: Instetten schaut Effi an (die Kamera steht hinter Effis Schulter, so dass ihr Hinterkopf eine Hälfte seines Gesichtes verdeckt). Einstellung 6: Alle vier Figuren in einer Einstellung, Mutter Briest kommt die Treppe herab, öffnet die Tür zum Salon im Hintergrund des Raumes und lädt mit einer entsprechenden Geste die anderen ein, ihr in den Salon zu folgen. Einstellung 7: Effis Freundinnen im Garten spionieren durch das Fenster nach Innen: zwei vom Fensterkreuz gerahmte Gesichter hinter der Scheibe [Abb. 5]. Einstellung 8: Die kleine Gruppe drinnen betritt den Salon. Als aus dem Off der Ruf der Freundinnen „Effi, komm!“ ertönt, dreht sich Instetten um [Abb. 6]. Mit einer Fahrt auf sein Gesicht, die seinen kalten, harten Blick betont, endet die Eröffnungssequenz.

Im Folgenden beschreibe ich einige der erzählerischen Strategien, derer sich dieser ungewöhnliche Filmanfang zur Initiation seines Zuschauers bedient.

Narrativisieren, Diegetisieren: Ein Diskurs der Nüchternheit, eine Welt aus Literatur

Der Film beginnt mit einem perzeptiven Schock: Die schwarzen, in ihrer Form äußerst reduzierten Titel auf gleißendem Weiß sind schmerzhaft nach der Dunkelheit im Kinosaal – ein Aufmerksamkeitssignal, zugleich ein Indikator der Nüchternheit des Diskurses und damit zugleich eine Erwartungen produzierende Strukturvorgabe. Keine sonst übliche Titelmusik, für gewöhnlich Träger und Modulator des grundlegenden moods, der Grundstimmung der Filmgeschichte (vgl. Bullerjahn 2001), ist den Titeln unterlegt. Der Film verzichtet damit auf die wichtigste Möglichkeit zur emotionalen „Einstimmung“ des Zuschauers auf die Fiktion; er will nicht „auf’s Gemüt wirken“, wie es Fassbinder 1974 in einem Interview mit Kraft Wetzel formuliert hat (Fassbinder 1986, 55). Der Filmanfang konfrontiert den Zuschauer mit dieser ästhetischen Haltung und legt ihm eine entsprechende rezeptive Haltung nahe. Die Titelsequenz, sogar in dieser kargen Form, ist nicht lediglich eine äußere „Schwelle“ des Films, sondern wirkt auf den „Erwartungshorizont“ ein und befördert eine spezielle Form der mise en phase (Odin 2000, Kap. 3), noch bevor die ersten Elemente der Handlung eingeführt werden. Filmtitel und Titelsequenz prägen die Erfahrungskonstitution und sorgen für Vorverständnis. Vom allerersten Moment an und bevor der Zuschauer überhaupt zu konkreten Hypothesen die Diegese und den Plot betreffend, angeregt wird, orientieren sie ihn affektiv wie kognitiv(6). Man könnte auch sagen: Der filmische Diskurs, der am Anfang etabliert wird, stimmt den Zuschauer ein, „tuned“ ihn in Hinblick auf die Erzählung und den Erzählprozess zugleich, legt ihm eine angemessene rezeptive Einstellung nahe.

Der Titel des Films ist zentral für die Erzeugung eines solchen Vorverständnisses. Fassbinder nennt seinen Film nicht „Effi Briest“ (im Ausland wird er allerdings unter diesem Titelkürzel verliehen), sondern FONTANE EFFI BRIEST und bringt den Romanautor so von Anbeginn an ins Spiel. Und er fügt diesem Haupttitel einen langen, barock anmutenden Untertitel hinzu:

Fontane Effi Briest oder
Viele, die eine
Ahnung haben
von ihren Möglich-
keiten und
ihren Bedürf-
nissen und trotz-
dem das herr-
schende System
in ihrem Kopf
akzeptieren
durch ihre Ta-
ten und so-
mit festigen
und durchaus bestätigen

Bereits mit diesem Titel – die einzige längere Textpassage, die nicht dem Roman entnommen ist (Gladziejewski 1998, 68) – wird das leitende Thema des Widerspruchs zwischen den Bedürfnissen des Individuums und den Normen der Gesellschaft etabliert. Aber dieser Widerspruch wird nun nicht zur Ausgangslage eines tragischen Konfliktes, sondern als Befundlage nüchtern konstatiert. Im Sprachduktus, der dem der „Lehrstücke“ Bertolt Brechts ähnelt (Schanze 1993, 103), wird der exemplarische Charakter der Geschichte betont, Effis Geschichte ins Allgemeine gehoben und damit die Haltung ihres Erzählers/Enunziators etabliert, der die „Utopie identischen Lebens“ von Anbeginn an als Möglichkeit ausschließt (Lohmeier 1989, 233). Eine Teilhabe, welche am emotionalen, gar kathartischen Erleben ausgerichtet ist, wird von Beginn an ausgeschlossen – bevor die Charaktere eingeführt werden und die eigentliche Geschichte beginnt!

Emotionale Empathie mit den Figuren, d.h. die spektatorielle Einfühlung in die Gefühlslagen der Charaktere, der Nach- oder Mitvollzug ihrer emotionalen Zustände, wird von Anbeginn an blockiert. Der Film verhindert systematisch die gängige Form der Teilhabe am fiktionalen Geschehen, welche auf narrativem ‘Involvement’ und emotionalem Miterleben beruht. Dennoch scheint eine Einschränkung dieser These angebracht: Denn natürlich ist einerseits die Geschichte von Effi Briest so stark, dass sie sich gegen alle Versuchen, solch erzählerische und psychologische Wirkmechanismen zu unterlaufen, gleichsam ‘durchdrückt’. Unser Fiktionsbedürfnis will gestillt werden, es scheint, als hungerten wir geradezu danach, „in Geschichten verstrickt“ zu werden, um es mit der berühmten Formulierung des Phänomenologen Wilhelm Schapp zu sagen (1985). Andererseits kann Empathie mit der Protagonistin auf analytisch vermitteltem (Um-)Weg durchaus erreicht werden. Denn selbst wenn wie hier Empathie mit den Figuren oder, wenn man an diesem missverständlichen Begriff festhalten möchte, „Identifikation“ durch die geschilderten textuellen Strategien von Anfang an blockiert wird, bleibt es für das Verstehen doch unabdingbar, die „situative Bedeutungsstruktur“ (situational meaning structure) für die Charaktere zu erschließen (Tan 1996, 172 et passim), d.h. ihre Weise, eine Situation wahrzunehmen, zu beurteilen und zu erleben, um die sich anbahnenden Konflikte überhaupt nachvollziehen und auch antizipieren zu können. Und obschon Fassbinders Film in seiner Sympathie für die Figuren klar mit der Brechtianischen Dramaturgie bricht, auf die mit dem Untertitel angespielt wird, haben wir doch die permanente Spannung zwischen dem erzählerischem Zugang zur Situation der Charaktere und den Erfahrungsweisen der Charaktere selbst zu berücksichtigen, die in ihrer jeweiligen Situation gefangen sind und eben nicht über narrative Allwissenheit verfügen.

An Filmanfängen sorgen eröffnende Totalen in der Funktion von etablishing shots gemeinhin für Orientierung im Handlungsraum. Nicht so hier, entspricht doch das erste Bild, die statische Einstellung des Herrenhauses, keinesfalls der Beschreibung durch den Voice-Over. Die heterodiegetische Erzählinstanz übernimmt wortgetreu die Anfangssätze des Romans mit ihren detailversessenen Beschreibungen einer „erstarrten Welt“, wie Amos Oz (1997, 19-25) in seiner wunderbaren Analyse des Romananfangs dessen erzählerische Quintessenz begrifflich bündelt. Fassbinder selbst ist der Erzähler/Vorleser. Aber wo ist die mittagsstille Dorfstraße, wo der rechtwinklig angebaute Seitenflügel, von dem die Rede ist, wo sind der Fliesengang und die Sonnenuhr, wo das mit Canna indica und Rhabarberstauden besetzte Rondell? Die Inkohärenz von Bild- und Tonebene sorgt für Irritation und stört die Illusionsbildung nachhaltig. Die diegetische Welt wird bereits mit dem ersten Bild als „abgeleitete Welt“, als „Welt aus Literatur“ präsentiert. Wir können sie wie durch einen Rahmen, wie in einem Guckkasten betrachten, sie aber nicht betreten oder uns gar in ihr einrichten. Wenn Roger Odin (1980) davon spricht, dass der Filmanfang den „Eintritt des Zuschauers in die Fiktion“ leiste, dann muss an Beispielen wie diesem dieser Befund spezifiziert werden. „Eintritt“ hieße in diesem Fall, der Zuschauer wird mit den Regeln der Fiktion vertraut gemacht, ein Adaptionsprozess setzt ein, eine ‘Ausrichtung’ auf den Text; diese geht aber nicht notwendig mit Illusionsbildung einher, wie sie mit Coleridges berühmter Formel von der „willing suspension of disbelief“ beschrieben ist.

Wie liest Fassbinder die Sätze aus Effi Briest vor? So, dass der Leseprozess selbst hervortritt. Der Text wird nicht in perfekter Diktion vorgetragen, sondern die Arbeit der Lektüre betont, der Prozess der Aneignung eines von jemand anderem und zu einer anderen Zeit geschriebenen Textes, die ‘Reibung’ des Lesers daran. Die Enunziation und der narrative Diskurs treten in den Vordergrund.

Als Indikatoren der Lektüre und der Enunziation sind auch die durchgängig eingesetzten auffälligen Weißblenden anzusehen, mit denen die einzelnen Szenen deutlich voneinander geschieden werden. Im oben bereits zitierten Interview bezeichnet Fassbinder sie als „Wachmacher“ (Fassbinder 1986, 55). Die ungewöhnlichen Blenden fungieren nicht allein als formale Textgliederungssignale, sondern sind ‘lesbar’ als Geste des ‘Umblätterns’ oder des ‘Anfangens’ und ‘Beendens’ von Kapiteln. Sie betonen die Sentenzhaftigkeit der Szenen(schlüsse). Der Leser des Romans präsentiert sich selbst als solcher und vermittelt seinem Leser/Zuschauer die Früchte seiner Lektüre, seine Interpretation.

Besonders markant wird dieser interpretierende Zugriff durch das Verfahren, Sätze aus dem Roman aus ihrem unmittelbaren Handlungskontext herauszulösen und sie als Schriftinserts einer Szene voranzustellen: „Eine Geschichte mit Entsagung ist nie schlimm“ – eine ungeheuerliche Aussage, die hier ganz nüchtern gesetzt wird. Wie ein advance organizer bahnt und resümiert dieser Zwischentitel im Vorhinein die Szene, in der Effi ihren Freundinnen von der unglücklichen Liebe des jungen Instetten zu ihrer Mutter erzählt. Dieser Satz, der im Roman von einer Figur wie nebenher gesprochen wird, ist hier lesbar als Statement der primären narrativen Instanz. Sie bezieht damit Stellung gegenüber dem Erzähler/Autor des Romans, der solche Sätze in den Dialogen versteckt und sich selbst hinter seinen Figuren zu verbergen scheint:

Das Zurückdrängen der Story und ihre Dedramatisierung zeigt sich auch in der Elliptisierung des „auslösenden Vorfalls“, der in normativen Dramaturgien den Beginn der eigentlichen Geschichte markiert. Der Heiratsantrag Instettens wird nicht gezeigt. Während Effi und ihre Mutter reglos auf der Treppe verharren und die Erzählzeit angehalten scheint, liest Fassbinder aus dem Roman vor und gibt dabei auch das Gespräch zwischen Mutter und Tochter wieder. Alles ist vorab entschieden, Entscheidungsszenen damit überflüssig. Die Figuren handeln nicht, sie bewegen sich gemessen im engen Korsett gesellschaftlicher Normen (und wirken zugleich wie Marionetten an den Fäden des Enunziators). Diese Interpretation spiegelt sich in der Positionierung der Figuren im Einstellungsraum: In strenger Geometrie werden sie in durchgängig geschlossenen Bildkompositionen angeordnet, die Konventionen der Malerei oder der frühen Fotografie aufnehmen. Verfahren wie die ‘Tiefenstaffelung‘ der Figuren in den Bildhintergrund hinein (zum staging in depth vgl. Bordwell 1997, 158ff) und ‘Kadragen in der Kadrage’ (auffallend: die obsessiv verwendeten Spiegelkonstruktionen) ‘rahmen’ die Charaktere. Durch ihre Stillstellung im szenischen Tableau wird von Anbeginn an das Thema von ‘Gefangenschaft’ und ‘Kontrolle’ kommuniziert.

Den Eindruck der ‘Erstarrung’ vermittelt auch der leblose Sprechgestus der Figuren. Die Vermeidung emotionalen Ausdrucks wird verstärkt durch die Nachsynchronisation fast aller Rollen durch andere Schauspieler: So wird Frau von Briest, die von Lilo Pempeit (der Mutter Fassbinders) gespielt wird, von Rosemarie Fendel eingesprochen, Wolfgang Hess leiht Uli Lommel seine Stimme, Kurt Raab seine Hark Bohm, Margit Carstensen spricht Irm Hermann ein. Hanna Schygulla spricht ihren Part selbst und kann dabei auf den für sie charakteristischen artifiziellen, extrem stilisierten Schauspielstil zurückgreifen (vgl. Lowry/Korte 2000, 228). Fassbinder schließt mit diesem Verfahren an die filmästhetische Programmatik von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet an. Im Vorspann zu ihrem NICHT VERSÖHNT ODER ES HILFT NUR GEWALT, WO GEWALT HERRSCHT (BRD 1965), nach einer Erzählung von Heinrich Böll – für Fassbinder die einzige Literaturverfilmung, die er gelten ließ (so äußert er sich im oben erwähnten Interview mit Corinna Brocher) – zitieren sie Bertolt Brecht: „Anstatt den Eindruck hervorrufen zu wollen, er improvisiere, soll der Schauspieler lieber zeigen, was die Wahrheit ist: er zitiert.“ Effekt ist eine Distanz von Figur und Darstellung (so auch Schmid 1989, 126), durch die neben der Rolle und der Performance auch die „Rollenhaftigkeit allen Verhaltens“ sichtbar gemacht wird (Lowry/Korte 2000, 236). Dieser Verfremdungseffekt wird noch dadurch verstärkt, dass das Agieren der Figuren nicht ihren Aussagen entspricht: So treffen auf die behutsamen Bewegungen Effis in der Eröffnungsszene kaum die Begriffe „wild“ und „leidenschaftlich“ zu, mit der Frau von Briest ihre Tochter lächelnd zurückweist. An solchen Stellen vermittelt der Film ebenso viel über die Narration wie über die Figuren.

Der Anfang des Films zeigt ein Ende: Effis Abschied von der fröhlich-verspielten Kindheit und ihren Eintritt in das Erwachsenenleben, in die Ehe und damit zugleich in den Geltungsbereich der Gesellschaft und ihrer Normen. Der vermeintlich intime Raum der Ehe ist Ort der Vergesellschaftung. Der Ruf der Freundinnen von draußen, „Effi, komm!“, kann sie da nicht mehr herausholen – in Instettens kaltem Blick, der die Szene beschließt, kulminiert die Idee der Gefangenschaft. Am Anfang von FONTANE EFFI BRIEST offenbart sich so das Bedeutungssubstrat der Geschichte Fontanes in ihrer Interpretation durch Fassbinder (zur Kritik daran vgl. Egger 2005). Diese folgt der politischen Programmatik der 70er Jahre, wonach es gelte, den „Faschismus in den Beziehungen“ aufzudecken (mit dieser zeitgenössischen Parole umschreibt Claudia Lenssen die ästhetisch-politische Programmatik Fassbinders in den 70er Jahren; Lenssen 1993, 271). Mit der partiellen Blockade der Diegetisierung und Narrativisierung sowie mit der extremen Stilisierung wird eine Verdichtung und politische Radikalisierung der Erzählung erzielt.

Narration, Enunziation und Autorschaft

In den beschriebenen narrativen und stilistischen Verfahren bringt sich die filmische Enunziation zur Geltung und drängt zugleich auf ‚Verkörperung‘ durch den „realen“ Autoren Fassbinder (der tatsächlich ein „konstruierter“ ist). Die Enunziation ist in diesem Falle nicht „impersonal“, wie es Metz (1997) vehement gefordert hat, sondern der Zuschauer schließt von der narrativen, interpretierenden und Stellung beziehenden Instanz wie selbstverständlich auf den „Autoren“ Fassbinder; die Erzählinstanzen, im narratologischen Modell sorgsam geschieden, verschmelzen in der Rezeption. Der Zuschauer „autorisiert“ die Narration, so François Josts Beschreibung dieses Vorgangs (Jost 1995). Ergebnis ist eine ‚changierende‘ Enunziation: Gegenstand unserer Lektüre des Films ist die Lektüre des „Lesers/Autors Fassbinder“, in der dieser sein Wissen um den „Erzähler/Autoren“ Fontane ins Spiel bringt, dessen Erzählhaltung (die wiederum vom Text deduziert ist), hinterfragt und zugleich ein „Bild“ von sich selbst entwirft – eine komplexe enunziative/autorielle Schachtelung, ein polyphonischer Diskurs.

Fiktionalisierung und Rolle des Filmanfangs

Der irritierende Anfang von FONTANE EFFI BRIEST mit seinem besonderen referentiellen Status dient mir als – zugegebenermaßen ungewöhnliches – Beispiel, das dennoch (oder gerade deshalb) geeignet ist, grundlegend notwendige Prozesse bei der einsetzenden Fiktionalisierung klar hervortreten zu lassen und damit der Beschreibung zugänglich zu machen. Der Befund über den besonderen referentiellen Bezug und fiktionalen Modus sowie die spezifischen Strategien des narrativen Diskurses erfordert vom Zuschauer ‘Bewegungen’ im metanarrativen und metatextuellen Raum, ein ‘Abtasten’ des Textes an seinem Anfang auf der Suche nach dem geeigneten Rahmen für das Verstehen. Die evaluative Einstellung auf das Textangebot ist am Anfang hochaktiv und umfasst auch Selbstevaluationen. Der Filmanfang legt nicht allein die ‘Spuren’ in narrativer Hinsicht aus (wie dies die Redeweise von der „Fabelkonstruktion“ nahezulegen scheint), sondern er setzt die den Text umgreifenden Rahmen des kommunikativen Prozesses und offeriert dem Zuschauer ein spezifisches Erfahrungs- und Beziehungsangebot in kognitiver und affektiver Hinsicht. Der Zuschauer hat über die Regeln des textuellen Spiels zu befinden und über seine/ihre eigene Rolle darin. In diesem Sinn erweist sich der Filmanfang als notwendig und unhintergehbar reflexiv. Mein Vorschlag für die zukünftige Arbeit wären daher weitergehende Untersuchungen der spezifisch pragmatischen Funktionen des Anfangs: als Möglichkeit, den ausgeklammerten, zuweilen gar negierten Kommunikationsprozess wieder hineinzuholen in die Modellvorstellungen vom Filmanfang und seinen textuellen Leistungen, die derzeit primär auf narrations- und enunziationstheoretischen Überlegungen aufruhen. Die enunziativen Markierungen, die Metz so luzide herausarbeitet, wären im pragmasemiotischen Verständnis als konkrete Angebote an einen textuell hypostasierten Zuschauer zu fassen. Die Pragmasemiotik des Films erweist sich so als anschließbar an kommunikationstheoretische Überlegungen einerseits, andererseits ist sie rückbindbar an die praktische Filmdramaturgie mit ihrem impliziten Wissen vom Zuschauer und dessen Filmkompetenzen und ihren Handwerksregeln, mit denen jene zu stimulieren sind. Und dieses zweifache Interesse – das Nachdenken über die theoretische Grundlegung des Films, aber auch die Lust am Handwerk des Filmemachens – ist es, was die Lehr- und Forschungstätigkeit von Thomas Kuchenbuch bestimmt.

Für Kritik und Hinweise danke ich Stephen Lowry, Christine Noll Brinckmann, Matthias Christen und Ruggero Eugeni sowie Hans Meienreis für die Erstellung der Abbildungen.

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