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Das Buch als hyperreales Metanarrativ

Die neue Haptik eines alten Mediums: der Roman 'S.' von J. J. Abrams und Doug Dorst oder das 'Schiff des Theseus' als Spiel mit der Wirklichkeit

'Ship of Theseus' von 'V. M. Straka', als
'Ship of Theseus' von 'V. M. Straka', als "objet trouvé" aus dem Jahr 1949 kreiert von J. J. Abrams und Doug Dorst (Canongate Books 2013). Foto: Oliver Zöllner
Randnotizen zweier
Randnotizen zweier "Leser", die einen metanarrativen Dialog über den Roman bilden, ziehen sich durchs ganze Buch. Hinzu kommen zahlreiche eingelegte Telegramme, Postkarten, beschriebene Servietten u.v.m. Foto: Oliver Zöllner
Das Buch bist DU! Und das Medium ist nicht nur die Botschaft, sondern auch eine Massage der Sinne: behaupteten schon der Medientheoretiker Marshall McLuhan und die Designer und Graphiker Quentin Fiore und Jerome Agel in ihrem Bestseller 'The Medium Is the Massage' (orig.: Random House 1967). Foto: Oliver Zöllner
Das Buch bist DU! Und das Medium ist nicht nur die Botschaft, sondern auch eine Massage der Sinne: behaupteten schon der Medientheoretiker Marshall McLuhan und die Designer und Graphiker Quentin Fiore und Jerome Agel in ihrem Bestseller 'The Medium Is the Massage' (orig.: Random House 1967). Foto: Oliver Zöllner

Von Oliver Zöllner

An der Hochschule der Medien beschweren sich Studierende inzwischen, wenn sie Begleitmaterialien zu Vorlesungen in Papierform erhalten: Dies sei "einer Medien­hochschule unwürdig". Die Online/Cloud-Revolution frisst ihre Kinder, die Gutenberg-Galaxis scheint Lichtjahre entfernt. Ja, lesen diese jungen Leute noch Zeitung? Bücher gar? Beklagen möchte man's auf seine alten Tage in avunkularem Duktus, wäre es nicht so!

Doch just da kommt 2013 ein Buch daher, gedruckt wie ehedem, mit festem Einband; ein Roman, der das Haptische, Anfass­bare zurückbringt ins Zeitalter des immate­riellen eBook; und dennoch wie ein Web-Text wirkt. Ein Buchstabe nur bildet seinen Titel: "S.". Aber im schwarzen Schuber steckt ein Buch im Buch: "Ship of Theseus", dessen Autor ist laut Buch­deckel V. M. Straka, Über­setzer des Werkes ein gewisser F. X. Caldeira, der in seinen zahl­reichen Fußnoten nicht müde wird, die Bedeutung des "höchst idiosyn­kratischen und einfluss­reichen" Autors zu preisen. Altmodisch wirkt das Buch, gestaltet im Design früherer Jahr­zehnte. Vergilbt erscheinen die Seiten schon, erschienen vorgeblich 1949 beim Verlag Winged Shoes Press in New York. Deutlich gebraucht aussehend wird das Buch so vom regulären Fachhandel 2013 ausge­liefert: als verloren gegangenes Biblio­theks­exemplar mit aufgeklebtem Rückenetikett und all den üblichen Stempeln ("Property of Laguna Verde Highschool Library"), zurückzugeben bis 14. Oktober 2000. Und von der ersten bis zur letzten Seite ist "Ship of Theseus" – in den Marginalien und anderswo – vollgeschmiert mit scheinbar handschrift­lichen Notizen zweier Leser, Jen und Eric, deren aufeinanderbezogene Kommentare einen fortlaufenden Dialog ergeben, aus dem der Plot der Romans erst entsteht.

Beigelegt sind dem Buch – ein Horror für jede Leih­bücherei! – zahlreiche Materia­lien, die es zur Multimedia-Einheit machen: ein Telegramm der Deutschen Reichspost von 1924 (natürlich fiktiv), kopierte Auszüge aus (natürlich nicht existierenden) Fach­büchern, Artikel aus (selbst­verständlich erdachten) Campus­zeitungen, Postkarten aus Brasilien aus den 1960er-Jahren (man ahnt es schon: allesamt Fakes), hand­schrift­liche Briefe, beschriebene Servietten, Sternenkarten und und und. Selbst der edle Seitengilb ist nur ein schöner Schein. Der Leser muss schon eine Lupe zur Hand nehmen, um auf der hinteren Einband­innen­seite in Mikroschrift das echte Impressum des Buches (von 2013) zu finden, in dem die Autorenschaft geklärt und der tatsächliche Verlag gennant werden. Ein schönes Spiel mit Realitäts­ebenen – hervorragend und aufwändig gedruckt noch dazu.

Die wahren Urheber von "S." – da muss man schon auf den mitge­lieferten Pappschuber schauen – sind J. J. Abrams und Doug Dorst. Sie sind keine Unbe­kannten: Jeffrey Jacob Abrams ist als Film- und Fernseh­produzent und Drehbuch­autor berühmt geworden; zu seinen bekanntesten Schöpfungen zählen die TV-Serien "Alias" und "Lost" wie auch der Spielfilm "Mission: Impossible III". 2015 ist er Regisseur des siebten Teils der "Star-Wars"-Filmreihe ("The Force Awakens"). Doug Dorst ist Autor von Romanen und Kurzgeschichten ("The Surf Guru", 2011). Und nun also dieser bizarre Roman "S.", bei dem der Leser zunächst vor der Aufgabe steht, sich einen Zugang zum Buch und seiner Handlung selbst zu legen. Wie liest man eigentlich dieses Buch? Die Antwort lautet: postmodern. Als Geschichte über die Geschichte. Als Meta­narrativ.

Vor 30 Jahren hätte dies wahrscheinlich noch nicht funktioniert, aber es sind just die Werke der audiovisuellen Populär­kultur, für die unter anderem auch J. J. Abrams steht, die die passende Rezeption eines solchen Buches ermöglichen. Plot verzweifelt gesucht!, das war ja mal der Schlacht­ruf der Postmoderne, und Fernseh­zuschauer konnten ihm in den 1980er- und '90er-Jahren bereits folgen: etwa in Serien wie "The Singing Detective" (Buch: Dennis Potter, GB 1986) oder "Twin Peaks" (Kreation: David Lynch/Mark Frost, USA 1989-91 & 2016-17), die die Wahrnehmung­sweisen ihrer geneigten Zuschauer verändert haben. Wer ist wer? Wann? Wo? So auch in "S." bzw. "Ship of Theseus": Ist Straka in Wirklich­keit Caldeira? Oder umgekehrt? Aber was ist die Wirklich­keit? Wer sind Jen und Eric? (Und ist Dorst gar Abrams?) Ist "S." eine Verneigung vor "V.", Thomas Pynchons verwickeltem Romandebut von 1963, in dem mehrere Zeit- und Realitätsebenen kollabieren und das bis heute ganze Genera­tionen von Interpreten und Kommenta­toren ins Brot setzt? Mehr zum Plot soll hier nicht verraten werden. Aber deutlich genug ist der im Titel angelegte Hinweis auf den antiken Mythos von Theseus und seinem Schiff, das Planke für Planke ersetzt wird, bis es ein scheinbar neues Schiff ist (oder doch noch das alte?). Was ist was? Wer ist wer? Es bleibt paradox: Das zweite Buch ist und ist zugleich nicht das ältere Buch. Es ist ein veritables Lese­vergnügen, sich in die Welt von "S." einzudenken. Es ist dies die Suche des Menschen im Internetzeitalter (aus dem sich das Buch zeitlich so elegant ausklinkt) nach seiner Identität, die hier verhandelt wird. Der Medienphilosoph Luciano Floridi hat den Theseus-Mythos denn auch als Grundlage seines Kapitels zur Identität im "Onlife" in seinem Standardwerk "The Fourth Revolution" (2014) gewidmet.

Eine Liebeserklärung an die Hypertextualität

Das Buch-im-Buch "Ship of Theseus" gibt also deutliche Hinweise zum Verstehen des Erzählkosmos. In ihm versteckt sich ein liebevoller Verweis auf die Kybernetik (gr. kybernetis = Steuermann, Schiffsführer) und damit zum – begrifflich daraus abgeleiteten – Cyberspace und dessen hypertextueller Referenzierung von Handlungen, die eine nicht-lineare Argumentation eigener Art schafft. So auch hier. Willkommen in der "Hyperrealität", wie sie etwa der französische Medien­philosoph Jean Baudrillard ("Agonie des Realen", dt. 1978) skizziert hat: eine Wirklichkeit, die der Fiktion schon nicht mehr bedarf. Ein Simulakrum, das etwas einbildet, was vorher nicht existiert hat. Beinahe schon erwartungs­gemäß enttäuschend konventio­nell ist denn auch Strakas/Dorsts Stilistik; da war David Foster Wallace mit seiner Roman­simulation "Infinite Jest" (1996) und dem dortigen mehr als 100-seitigen Fake-Fußnoten- und -Fußnoten-zu-Fußnoten-Apparat sicher schon weiter. Aber kein Wunder: "Ship of Theseus" wurde ja schon in den 1940er-Jahren geschrieben. Und das scheint selbst für hartgesottene Bibliothekare in der realen Welt als Tatsache so überzeugend gewesen zu sein, dass etwa die Deutsche Nationalbibliothek die deutsche Fassung des Buches in ihrem Katalog offiziell als "Nachdr[uck] der Ausg[abe] Winged Shoes Press, New York, 1949" geführt hat, jedenfalls ein paar Monate lang. Das perfekte Simulakrum. Einen Screenshot hätte man machen sollen zum Beweis.

Auch auf der Ebene der Medialität ist "S." höchst bemerkenswert, löst es doch Marshall McLuhans altes Diktum ein, der Leser verschmelze gewisser­maßen mit einem Buch; das Medium sei als eine Art Rezeptions­umwelt die Botschaft (message) an sich; das Buch, das Fernsehen und die Welt des Computers seien vor allem aber auch eine allumfassende Massage der Sinne; eine Art Happening. Now: wow! McLuhan, selbst noch ganz und gar Bewohner der von ihm so genannten "Gutenberg-Galaxis" ("The Gutenberg Galaxy", 1962) schrieb dies in den 1960er-Jahren, als vom papier­losen Internet und der immateriellen Daten­wolke noch gar keine Rede sein konnte und es noch das Medium Buch war, das in seiner Linearität die Organisation der Gedanken und der Diskurse vorgab. Und wie es der alte Mäc vorhersah: das zunehmend fragmen­tierte Fernsehen und das hyper­textuelle Internet haben diese Linea­rität inzwischen so ziemlich zerstört. Dies macht Bücher wie "S." mit all seinen Beilagen und Kommentaren erst möglich. Aber interessant, dass sie dann doch noch als klassisch analoge Printbücher erscheinen und nicht bloß als Blog mit diversen Hyperlinks (wiewohl es den hier vorgestellten Roman auch als eBook und sogar – wie soll das eigentlich funktionieren? – als Hörbuch gibt).

Auch die eingangs etwas geschol­tenen "jungen Leute", die an einer Medien­hoch­schule studieren, könnten so vielleicht noch einen Zugang zur so ganz und gar altmodischen Welt des gedruckten Wortes finden. Irgendetwas ist dran am Buch, und wenn es nur seine Haptik ist. Im vorliegenden Fall ist es das Medium Buch, das in "S." seine eigene Narrations­geschichte erzählt. Als eBook möchte man das eher nicht haben. Das Print-Medium Buch erweist sich angesichts seiner elektronischen Konkurrenz als erstaunlich resilient.

"O." "Z."

J. J. Abrams / Doug Dorst: S. New York: Canongate Books, 2013. [Dt. Ausg.: S. Das Schiff des Theseus. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2015]

Weiterführende Literatur:

Eckstein, Lisa: Das ultimative Anti-E-Book? Der Roman "S. - Das Schiff des Theseus" von J. J. Abrams und Doug Dorst. Mainz: Mainzer Institut für Buchwissenschaft, 2017.

 

 


Weiterführende Links:
Rezension des Romans "S." im 'Guardian' vom 13. November 2013
Interview mit J. J. Abrams und Doug Dorst im 'New Yorker' vom 23. November 2013
Rezension von "Das Schiff des Theseus" in der 'Süddeutschen Zeitung' vom 6. Oktober 2015


Autoren

Name:
Prof. Dr. Oliver Zöllner  Elektronische Visitenkarte
Forschungsgebiet:
Digitale Ethik, Empirische Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Public Diplomacy
Funktion:
Professor
Lehrgebiet:
Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Digitale Ethik, Public Diplomacy, Nation Branding, Hörfunkjournalismus
Studiengang:
Medienwirtschaft (Bachelor, 7 Semester)
Fakultät:
Fakultät Electronic Media
Raum:
216, Nobelstraße 10 (Hörsaalbau)
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