Das Buch als hyperreales Metanarrativ
Die neue Haptik eines alten Mediums: der Roman 'S.' von J. J. Abrams und Doug Dorst oder das 'Schiff des Theseus' als Spiel mit der Wirklichkeit
Von Oliver Zöllner
An der Hochschule der Medien beschweren sich Studierende inzwischen, wenn sie Begleitmaterialien zu Vorlesungen in Papierform erhalten: Dies sei "einer Medienhochschule unwürdig". Die Online/Cloud-Revolution frisst ihre Kinder, die Gutenberg-Galaxis scheint Lichtjahre entfernt. Ja, lesen diese jungen Leute noch Zeitung? Bücher gar? Beklagen möchte man's auf seine alten Tage in avunkularem Duktus, wäre es nicht so!
Doch just da kommt 2013 ein Buch daher, gedruckt wie ehedem, mit festem Einband; ein Roman, der das Haptische, Anfassbare zurückbringt ins Zeitalter des immateriellen eBook; und dennoch wie ein Web-Text wirkt. Ein Buchstabe nur bildet seinen Titel: "S.". Aber im schwarzen Schuber steckt ein Buch im Buch: "Ship of Theseus", dessen Autor ist laut Buchdeckel V. M. Straka, Übersetzer des Werkes ein gewisser F. X. Caldeira, der in seinen zahlreichen Fußnoten nicht müde wird, die Bedeutung des "höchst idiosynkratischen und einflussreichen" Autors zu preisen. Altmodisch wirkt das Buch, gestaltet im Design früherer Jahrzehnte. Vergilbt erscheinen die Seiten schon, erschienen vorgeblich 1949 beim Verlag Winged Shoes Press in New York. Deutlich gebraucht aussehend wird das Buch so vom regulären Fachhandel 2013 ausgeliefert: als verloren gegangenes Bibliotheksexemplar mit aufgeklebtem Rückenetikett und all den üblichen Stempeln ("Property of Laguna Verde Highschool Library"), zurückzugeben bis 14. Oktober 2000. Und von der ersten bis zur letzten Seite ist "Ship of Theseus" – in den Marginalien und anderswo – vollgeschmiert mit scheinbar handschriftlichen Notizen zweier Leser, Jen und Eric, deren aufeinanderbezogene Kommentare einen fortlaufenden Dialog ergeben, aus dem der Plot der Romans erst entsteht.
Beigelegt sind dem Buch – ein Horror für jede Leihbücherei! – zahlreiche Materialien, die es zur Multimedia-Einheit machen: ein Telegramm der Deutschen Reichspost von 1924 (natürlich fiktiv), kopierte Auszüge aus (natürlich nicht existierenden) Fachbüchern, Artikel aus (selbstverständlich erdachten) Campuszeitungen, Postkarten aus Brasilien aus den 1960er-Jahren (man ahnt es schon: allesamt Fakes), handschriftliche Briefe, beschriebene Servietten, Sternenkarten und und und. Selbst der edle Seitengilb ist nur ein schöner Schein. Der Leser muss schon eine Lupe zur Hand nehmen, um auf der hinteren Einbandinnenseite in Mikroschrift das echte Impressum des Buches (von 2013) zu finden, in dem die Autorenschaft geklärt und der tatsächliche Verlag gennant werden. Ein schönes Spiel mit Realitätsebenen – hervorragend und aufwändig gedruckt noch dazu.
Die wahren Urheber von "S." – da muss man schon auf den mitgelieferten Pappschuber schauen – sind J. J. Abrams und Doug Dorst. Sie sind keine Unbekannten: Jeffrey Jacob Abrams ist als Film- und Fernsehproduzent und Drehbuchautor berühmt geworden; zu seinen bekanntesten Schöpfungen zählen die TV-Serien "Alias" und "Lost" wie auch der Spielfilm "Mission: Impossible III". 2015 ist er Regisseur des siebten Teils der "Star-Wars"-Filmreihe ("The Force Awakens"). Doug Dorst ist Autor von Romanen und Kurzgeschichten ("The Surf Guru", 2011). Und nun also dieser bizarre Roman "S.", bei dem der Leser zunächst vor der Aufgabe steht, sich einen Zugang zum Buch und seiner Handlung selbst zu legen. Wie liest man eigentlich dieses Buch? Die Antwort lautet: postmodern. Als Geschichte über die Geschichte. Als Metanarrativ.
Vor 30 Jahren hätte dies wahrscheinlich noch nicht funktioniert, aber es sind just die Werke der audiovisuellen Populärkultur, für die unter anderem auch J. J. Abrams steht, die die passende Rezeption eines solchen Buches ermöglichen. Plot verzweifelt gesucht!, das war ja mal der Schlachtruf der Postmoderne, und Fernsehzuschauer konnten ihm in den 1980er- und '90er-Jahren bereits folgen: etwa in Serien wie "The Singing Detective" (Buch: Dennis Potter, GB 1986) oder "Twin Peaks" (Kreation: David Lynch/Mark Frost, USA 1989-91 & 2016-17), die die Wahrnehmungsweisen ihrer geneigten Zuschauer verändert haben. Wer ist wer? Wann? Wo? So auch in "S." bzw. "Ship of Theseus": Ist Straka in Wirklichkeit Caldeira? Oder umgekehrt? Aber was ist die Wirklichkeit? Wer sind Jen und Eric? (Und ist Dorst gar Abrams?) Ist "S." eine Verneigung vor "V.", Thomas Pynchons verwickeltem Romandebut von 1963, in dem mehrere Zeit- und Realitätsebenen kollabieren und das bis heute ganze Generationen von Interpreten und Kommentatoren ins Brot setzt? Mehr zum Plot soll hier nicht verraten werden. Aber deutlich genug ist der im Titel angelegte Hinweis auf den antiken Mythos von Theseus und seinem Schiff, das Planke für Planke ersetzt wird, bis es ein scheinbar neues Schiff ist (oder doch noch das alte?). Was ist was? Wer ist wer? Es bleibt paradox: Das zweite Buch ist und ist zugleich nicht das ältere Buch. Es ist ein veritables Lesevergnügen, sich in die Welt von "S." einzudenken. Es ist dies die Suche des Menschen im Internetzeitalter (aus dem sich das Buch zeitlich so elegant ausklinkt) nach seiner Identität, die hier verhandelt wird. Der Medienphilosoph Luciano Floridi hat den Theseus-Mythos denn auch als Grundlage seines Kapitels zur Identität im "Onlife" in seinem Standardwerk "The Fourth Revolution" (2014) gewidmet.
Eine Liebeserklärung an die Hypertextualität
Das Buch-im-Buch "Ship of Theseus" gibt also deutliche Hinweise zum Verstehen des Erzählkosmos. In ihm versteckt sich ein liebevoller Verweis auf die Kybernetik (gr. kybernetis = Steuermann, Schiffsführer) und damit zum – begrifflich daraus abgeleiteten – Cyberspace und dessen hypertextueller Referenzierung von Handlungen, die eine nicht-lineare Argumentation eigener Art schafft. So auch hier. Willkommen in der "Hyperrealität", wie sie etwa der französische Medienphilosoph Jean Baudrillard ("Agonie des Realen", dt. 1978) skizziert hat: eine Wirklichkeit, die der Fiktion schon nicht mehr bedarf. Ein Simulakrum, das etwas einbildet, was vorher nicht existiert hat. Beinahe schon erwartungsgemäß enttäuschend konventionell ist denn auch Strakas/Dorsts Stilistik; da war David Foster Wallace mit seiner Romansimulation "Infinite Jest" (1996) und dem dortigen mehr als 100-seitigen Fake-Fußnoten- und -Fußnoten-zu-Fußnoten-Apparat sicher schon weiter. Aber kein Wunder: "Ship of Theseus" wurde ja schon in den 1940er-Jahren geschrieben. Und das scheint selbst für hartgesottene Bibliothekare in der realen Welt als Tatsache so überzeugend gewesen zu sein, dass etwa die Deutsche Nationalbibliothek die deutsche Fassung des Buches in ihrem Katalog offiziell als "Nachdr[uck] der Ausg[abe] Winged Shoes Press, New York, 1949" geführt hat, jedenfalls ein paar Monate lang. Das perfekte Simulakrum. Einen Screenshot hätte man machen sollen zum Beweis.
Auch auf der Ebene der Medialität ist "S." höchst bemerkenswert, löst es doch Marshall McLuhans altes Diktum ein, der Leser verschmelze gewissermaßen mit einem Buch; das Medium sei als eine Art Rezeptionsumwelt die Botschaft (message) an sich; das Buch, das Fernsehen und die Welt des Computers seien vor allem aber auch eine allumfassende Massage der Sinne; eine Art Happening. Now: wow! McLuhan, selbst noch ganz und gar Bewohner der von ihm so genannten "Gutenberg-Galaxis" ("The Gutenberg Galaxy", 1962) schrieb dies in den 1960er-Jahren, als vom papierlosen Internet und der immateriellen Datenwolke noch gar keine Rede sein konnte und es noch das Medium Buch war, das in seiner Linearität die Organisation der Gedanken und der Diskurse vorgab. Und wie es der alte Mäc vorhersah: das zunehmend fragmentierte Fernsehen und das hypertextuelle Internet haben diese Linearität inzwischen so ziemlich zerstört. Dies macht Bücher wie "S." mit all seinen Beilagen und Kommentaren erst möglich. Aber interessant, dass sie dann doch noch als klassisch analoge Printbücher erscheinen und nicht bloß als Blog mit diversen Hyperlinks (wiewohl es den hier vorgestellten Roman auch als eBook und sogar – wie soll das eigentlich funktionieren? – als Hörbuch gibt).
Auch die eingangs etwas gescholtenen "jungen Leute", die an einer Medienhochschule studieren, könnten so vielleicht noch einen Zugang zur so ganz und gar altmodischen Welt des gedruckten Wortes finden. Irgendetwas ist dran am Buch, und wenn es nur seine Haptik ist. Im vorliegenden Fall ist es das Medium Buch, das in "S." seine eigene Narrationsgeschichte erzählt. Als eBook möchte man das eher nicht haben. Das Print-Medium Buch erweist sich angesichts seiner elektronischen Konkurrenz als erstaunlich resilient.
"O." "Z."
J. J. Abrams / Doug Dorst: S. New York: Canongate Books, 2013. [Dt. Ausg.: S. Das Schiff des Theseus. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2015]
Weiterführende Literatur:
Eckstein, Lisa: Das ultimative Anti-E-Book? Der Roman "S. - Das Schiff des Theseus" von J. J. Abrams und Doug Dorst. Mainz: Mainzer Institut für Buchwissenschaft, 2017.
Weiterführende Links:
Rezension des Romans "S." im 'Guardian' vom 13. November 2013
Interview mit J. J. Abrams und Doug Dorst im 'New Yorker' vom 23. November 2013
Rezension von "Das Schiff des Theseus" in der 'Süddeutschen Zeitung' vom 6. Oktober 2015
Autoren
- Name:
- Prof. Dr. Oliver Zöllner
- Forschungsgebiet:
- Digitale Ethik, Empirische Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Public Diplomacy
- Funktion:
- Professor
- Lehrgebiet:
- Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Digitale Ethik, Public Diplomacy, Nation Branding, Hörfunkjournalismus
- Studiengang:
- Medienwirtschaft (Bachelor, 7 Semester)
- Fakultät:
- Fakultät Electronic Media
- Raum:
- 216, Nobelstraße 10 (Hörsaalbau)
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