Aufsatz

Plünderung oder Sharing? Analyse eines moralisierten Diskurses im digitalen Raum

Versöhnlicher als im analysierten Fallbeispiel geht es am Büchertauschregal der Hochschule der Medien zu (Foto: Oliver Zöllner).
Versöhnlicher als im analysierten Fallbeispiel geht es am Büchertauschregal der Hochschule der Medien zu (Foto: Oliver Zöllner).

In einer Fallstudie zur Angewandten Ethik hat HdM-Professor Oliver Zöllner den morali­sierten Diskurs rund um einen öffentlichen Büchertausch­schrank analysiert. Was sich auf den ersten Blick als vergleichs­weise klein und banal wirkender Konflikt auf Stadt­teil­ebene ausnimmt, gerät auf Social Media allerdings zu einer veritablen Ausein­ander­setzung mit zahl­reichen entglei­senden Anschul­digungen und Mut­maßungen, die auf Spaltungen in der Gesellschaft insgesamt verweisen. Das Unvermögen, sich im sublokalen Raum bei einem relativ wertlosen Alltags­gegenstand wie einem gebrauchten Buch auf dessen altruistische Weiter­gabe zu einigen, lasse fraglich erscheinen, ob die Wieder­verwen­dung von Gütern bzw. eine Kreis­lauf­wirtschaft in größerem Maßstab funktio­nieren kann, wenn allzu mensch­liche Moralismen diesem hehren Ziel im Wege stehen, so Zöllner.

Zöllners Beitrag, erschienen in Band 20 der Schriftenreihe Medien­ethik | Digitale Ethik, geht von einem Beobachtungs­fall in einem Stadt­viertel im Ruhrgebiet aus. Dort wurde im Sommer 2020 von einem gemeinnützigen Bürgerschaftsverein ein öffentlicher Bücherschrank eingerichtet, wie es ihn in vielen Städten gibt und bei dem Menschen anonym und kostenlos Bücher einstellen und entnehmen können. Dieses Konzept ist von solidarischem und nicht zuletzt auch ressourcenschonenden Handeln in einer Überflussgesellschaft geprägt. Nach einem guten halben Jahr beschloss der Betreiber, die eingestellten Bücher an ihren Schnittkanten mit deutlich sichtbaren Stempeln zu versehen, die die Druckwerke als "kostenloses Leihbuch" ausweisen. Grund für diese Markierungen war eine in Social-Media-Kanälen vorgebrachte Behauptung, dass der Bücherschrank von manchen Nutzerinnen und Nutzern "regelrecht geplündert" würde, wie es hieß: Es läge "der Verdacht nahe, dass Bücher massenhaft entnommen und dann irgendwo verkauft werden", so eine der ehrenamtlichen Aufsichtspersonen des Bücherschranks. Durch das Stempeln würden die Bücher jedoch "nahezu unverkäuflich", wie im sozialen Netzwerk nebenan.de gepostet wurde.

Vorwurf der "Plünderei"

Im Netz fand diese plötzliche Umstellung des öffentlichen Bücherschranks von einem ursprünglichen Ringtausch­system mit Eigentums­übertragung an die Entnehmer:innen hin zu einem Leihsystem mit Eigentums­vorbehalt des Bürgerschafts­vereins größtenteils Zustimmung. Angesichts des nunmehr etablierten Narrativs der vorgeblichen "Plünderei" des Bücherschranks kamen einige Social-Media-Posts Vigilanzfantasien sehr nahe. Der Bücherschrank, als gemeinwohlorientiertes Projekt begonnen, war plötzlich ein ganz anderer.

Zöllner hat in seinem Aufsatz den stadtteilinternen Diskurs anhand von dort geposteten Social-Media-Beiträgen rekonstruiert, analysiert, in die philosophischen Ansätze zum Thema "Schenken" und "Groß-" vs. "Kleinmütigkeit" eingeordnet und in Form eines aristotelischen Dramas systematisiert. Am Ende stehen viele Fragen, aber vor allem die Erkenntnis, dass der Diskurs im fraglichen Stadtteil auf kognitiven Irrtümern beruht, soziale Spaltungen innerhalb des Viertels widerspiegelt und letztlich nicht nur Bücher, sondern auch manche Menschen abstempelt.

Übermaßkritik und kognitive Irrtümer

Die Publikation spürt vielen aufgeworfenen Fragen nach und sucht im Sinne der praktischen Philosophie Antworten. Dabei bezieht sie sich u.a. auf klassische aristotelische Konzepte des Maßhaltens bzw. der Übermaßkritik. Statt Mäßigung sind beim verhandelten Fallbeispiel jedoch Zügellosigkeit auf beiden Seiten der Austauschbeziehung rund um den nachbar­schaftlichen Bücherschrank zu finden: ein vehementes Anprangern von ärmeren Mitmenschen, die nach kleineren Einkommens­quellen nebenher suchen (deren so beschriebenes Verhalten allerdings unbewiesen bleibt); aber auch die Empfindungslosigkeit der übermäßigen Buchentnehmer einem fragilen Anstands- bzw. Etikettekonzept gegenüber. Letzteres wäre allerdings nur zu konstatieren, wenn denn wirklich von Einzelnen übermäßig viele Bücher entnommen würden und diese Bücher nachfolgend weiterverkauft würden. Es ist aber allein diese Annahme, die bereits zu einer Zügellosigkeit der öffentlichen Anschuldigungen (und einer höchst akribischen Stempelei) führt, die dem gedeihlichen Zusammenleben im Stadtviertel eher abträglich ist.

Man konnte im stadtteilinternen Diskurs sehr deutliche Tendenzen zur Moralisierung erkennen bis hin zur moral panic. Inwieweit wäre bei diesem Fallbeispiel also eine gerechte Mitte (mesotes) zu finden, die im Sinne einer Großmütigkeit (megalopsychia) die Annehmbarkeit selbst der schlechtestmöglichen Haltung sicherstellt? Nicht übersehen werden sollte, dass der Bürgerschaftsverein selbst regelmäßig einen Teil der eingestellten Bücher entfernen und wegwerfen lässt, das scheinbar so wertvolle Luxusgut Buch also tatsächlich ein wertloses Überflussgut ist, für das man auf Flohmärkten und in antiquarischen Internetportalen bestenfalls Centbeträge erhält, würde man die eingestellten Schmöker denn verkaufen wollen. Insofern ist das Thema des Beitrags ein schönes Fallbeispiel für gesellschaftliche Organisation im lokalen Nahbereich, soziale Hierarchisierungen und Stigmatisierungen und deren letztlich unzulängliche ethische Reflexion. Philosophisch gefragt: Wie eigentlich will man hier einen Beitrag zum guten Leben leisten?

Der Beitrag:

Zöllner, Oliver (2023): Plünderung oder Sharing? Analyse eines moralisierten Diskurses im digitalen Raum und die Frage der Wieder­verwendung von materiellen Gütern. In: Petra Grimm, Harald Pechlaner und Oliver Zöllner (Hrsg.): Medien – Ethik – Digitalisierung. Aktuelle Herausforderungen (= Reihe: Medien­ethik | Digitale Ethik, Bd. 20). Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 109-133. - ISBN: 978-3-515-13599-3. DOI: 10.25162/9783515136013


Erschienen in:

Medien – Ethik – Digitalisierung. Aktuelle Herausforderungen (= Medien­ethik | Digitale Ethik, Bd. 20)
Auf den Seiten: 109-133
Autoren: Zöllner, Oliver
Hrsg.: Petra Grimm, Harald Pechlaner und Oliver Zöllner
Erscheinungsjahr: 2023
Verlag: Franz Steiner Verlag
Ort: Stuttgart

Weiterführende Links:
http://dx.doi.org/10.25162/9783515136013


Autoren

Name:
Prof. Dr. Oliver Zöllner  Elektronische Visitenkarte
Forschungsgebiet:
Digitale Ethik, Empirische Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Public Diplomacy
Funktion:
Professor
Lehrgebiet:
Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Digitale Ethik, Public Diplomacy, Nation Branding, Hörfunkjournalismus
Studiengang:
Medienwirtschaft (Bachelor, 7 Semester)
Fakultät:
Fakultät Electronic Media
Raum:
216, Nobelstraße 10 (Hörsaalbau)
Telefon:
0711 8923-2281
Telefax:
0711 8923-2206
E-Mail:
zoellner@hdm-stuttgart.de
Homepage:
https://www.oliverzoellner.de
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