Die 'letzten Belgier' sprechen Deutsch
Manifestationen kollektiver Identität in den belgischen Ostkantonen - ein Forschungstagebuch
Von Oliver Zöllner
Sie sind die "letzten Belgier" (Wenselaers 2008; van Istendael 2011, S. 177ff.), weil sie erst nach dem Ersten Weltkrieg ins Königreich Belgien eingegliedert wurden. Und sie bezeichnen sich gerne selbst so, weil sie im Sprachen- und Kulturstreit zwischen Flamen und Wallonen der "lachende Dritte" sind und – dank großzügiger Autonomie – zu den loyalsten Belgiern überhaupt zählen: die deutschsprachigen Belgier, rund 70.000 an der Zahl. Sie siedeln im Raum Eupen und Sankt Vith, gleich an der deutschen Grenze, unweit von Lüttich, Aachen, Maastricht und Luxemburg, mitten in Europa – und doch an der Peripherie.
Wie manifestiert sich die spezielle "ethnische" oder nationale Identität der deutschsprachigen Belgier im Alltag? Welche Spuren, welche "Artefakte" der kulturellen Selbstdefinition sind mit ethnographischen Methoden im Siedlungsgebiet der deutschsprachigen Belgier zu finden? Wie kann man diese "Eigenproduktion" kollektiver Identität analysieren und interpretieren?
Mit diesen und weiteren Fragen als Leitfaden begibt sich HdM-Professor Oliver Zöllner während seines Forschungssemesters ins "Feld". Im Sommersemester 2012 hält er sich mehrfach in Ostbelgien auf und erprobt auch seltener angewendete Methoden der qualitativen Forschung wie z.B. die Artefaktanalyse. Ziel ist, eine "Grounded Theory" der Identität der deutschsprachigen Belgier zu entwickeln (vgl. Strauss/Corbin 1998). Im HdM-Science-Portal erstattet er ab sofort regelmäßig Bericht: über seine Erkenntnisse, seine Fortschritte und vielleicht auch die Limitationen der erprobten Methoden. Forschung an der Grenze sozusagen – Heuristik ist nie ohne Risiko.
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Einige Begriffsklärungen
• Artefaktanalyse: Was der produktive Mensch formt und herstellt, kann auch als "Artefakt" bezeichnet werden. "Begreift man Artefakte als Materialisierungen von Kommunikation, so sind sie einerseits Ausdruck der sozialen Organisierung ihrer Herstellung und sagen andererseits etwas über den Kontext kommunikativer Beziehungen aus, in denen sie auftauchen und verwendet werden" (Froschauer 2003, S. 362). Mit Artefakten (z.B. Berichte, Broschüren, Kunstwerke, Fotografien, Tonaufnahmen, Filme, Akten, Architektur, museale Ausstellungen, räumliche Anordnungen etc.) kann somit der kommunikative Kontext einer sozialen Organisation (Unternehmen, Gruppierung, Nation, Community usw.) beobachtet und auf dieser Grundlage rekonstruiert werden. Der Vorteil: Diese "Daten" werden natürlich, also ohne Zutun des Forschers (Beobachters) produziert und können so für eine interpretative Analyse erschlossen werden. Artefakte sind also Gegenstände mit einer inhärenten (oftmals symbolischen) Bedeutung.
• Grounded Theory: Ein Ziel von qualitativ und induktiv orientierter Sozialforschung ist das Generieren einer Theorie, die zum (neuen, ggf. alternativen) Verständnis eines Forschungsgegenstands beiträgt. Ein solcher neuer, gegenstandsverankerter und datenbasierter Erklärungsansatz ist nach Strauss/Corbin (1998) eine "Grounded Theory". Das Entwickeln einer Grounded Theory ist ein vielschichtiger Prozess, der auf konstantem Hinterfragen des Gegenstands und Vergleichen mit ähnlichen/andersartigen Gegenständen beruht und dessen Kern iteratives "Codieren" bildet ("offenes", "axiales" und "selektives Codieren"). Mit diesen Analyseschritten sollen die Eigenschaften von Kategorien und ihre (Bedeutungs-)Dimensionen in stetig fokussierenden Schritten herausgelöst werden, bis der Bedeutungskern des Forschungsgegenstands strukturell (das Warum) und prozessual (das Wie) erklärbar ist (Strauss/Corbin 1998; vgl. Krotz 2005, S. 159ff.). Im empirischen Forschungsprozess arbeitet der Grounded Theorist – einem Ethnographen vergleichbar – mit Memos und Feldnotizen.
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Beobachtungen
20.3.2012. Sind die "letzten Belgier" die wahren Belgier? Dem irisch-englischen Dramatiker und Satiriker George Bernard Shaw zufolge war es die alte Kolonie Irland, die die "idealen" Engländer hervorbrachte: "(...) I perceive that Ireland is the only spot on earth which still produces the ideal Englishman of history" (Shaw 1931/1947, zit. nach McLuhan 2003, S. 108). Der "Andere" wird hier zum nationalen "Eigenen": Ironie der Geschichte. Die klischeehafte Redewendung vom "letzten Belgier" bezieht sich allerdings nicht nur auf die deutschsprachige Bevölkerungsgruppe Belgiens, sondern oft auch auf die klassischen "Anderen": Einwanderer bzw. Migranten. "Are the Immigrants the Last Belgians?", fragt ein Buchbeitrag (Morelli/Schreiber 1998). Die letzten Belgier sind offensichtlich nicht leicht einzuordnen und entziehen sich der landestypischen Dichotomie "Flame" versus "Wallone". Auch den Deutschsprachigen scheint in Belgien ein wenig das Attribut des Zugewanderten anzuhängen.
Besuch in Eupen, Hauptstadt der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG). Der Eupener Historiker Freddy Cremer schreibt in einem jüngst erschienenen Tagungsband: "Es ist fraglich, ob es in der Deutschsprachigen Gemeinschaft [Belgiens] eine belastbare kollektive Identität gibt" (Cremer 2012, S. 141). Mit dieser 'Nullhypothese' ist die Herausforderung des Forschungsprojekts skizziert – und die erste Teilaufgabe gestellt: den Begriff "(kollektive/kulturelle/ethnische) Identität" zu definieren und zu versuchen, ihn für das Forschungsobjekt anwendbar zu machen. Ein Experteninterview mit Dr. Stephan Förster, Leiter des Fachbereichs Außenbeziehungen und Europäische Programme im Ministerium der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Eupen (und zugleich ihr Vertreter bei der Belgischen Botschaft in Berlin), erbringt wertvolle Hinweise zum Thema.
Ethnographische Primärbeobachtungen: Eupen ist ein schmuckes Städtchen mit ca. 10.000 Einwohnern und mit entspannter Atmosphäre, dessen (ältere) Architektur eifelrheinische Formensprache aufweist. Auf der Straße höre ich fast ausschließlich deutsche Umgangssprache mit ripuarischem Einschlag. Belgische National- oder Regionalflaggen sehe ich nur vor Amtsgebäuden (Rathaus, Ministerien usw.), und dann (wie in der EU üblich) gemeinsam mit der Europaflagge – also keine ostentativen nationalstaatlichen Zugehörigkeits- oder Loyalitätsbekundungen auf der symbolischen Ebene (d.h. etwa so, wie es in Deutschland bis ca. 1990 der Fall war; der Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft und die etwa zeitgleiche staatliche Wiedervereinigung haben dort der Nationalflagge seither zu einer sichtbaren Ubiquität im Straßenbild verholfen). Die Eupener Ladenlokale sind fast ausschließlich auf Deutsch beschriftet, seltener zweisprachig deutsch/französisch. Ironischerweise sind es die örtlichen Niederlassungen bundesdeutscher Firmen (Aldi, Neckermann-Reisen), die Ihre Schaufensterwerbung bzw. Filialbeschriftungen wie im Rest der Region Wallonie (zu der die Deutschsprachige Gemeinschaft territorial gehört) standardisiert auf Französisch anbieten: ein Beispiel für interkulturelle Instinktlosigkeit "glokal" aufgestellter Unternehmen. Im Foyer des Ministeriums der Deutschsprachigen Gemeinschaft finde ich – neben zahlreichen Informationsbroschüren u.a. der Europäischen Union, der Provinz Lüttich, der Region Wallonie und der DG selbst – auch einen Flyer, der Deutschbelgier zur Teilnahme an einer Befragung zu ihrem Dialektgebrauch aufruft ("Kallt dir noch Platt? - Plattfragebogen der DG", ein Projekt der Universität Lüttich und des Fachbereichs Kultur des Ministeriums der Deutschsprachigen Gemeinschaft). Der geplante Dialektatlas verweist auf die durch die (auch massenmedial vermittelte) Hegemonie der deutschen Hochsprache tendenziell bedrohte Situation der ostbelgischen Lokaldialekte, die gegenwärtig eher von älteren Bewohnern gepflegt werden; die Befragung hat also durchaus defensiv-konservatorischen Charakter.
In der Geschäfsstelle der Lokalzeitung "Grenz-Echo" am Eupener Marktplatz hängt die Reproduktion des berühmten Bildes vom Turmbau zu Babel (von Pieter Brueghel d.Ä.), ein Hinweis auf den belgischen Grundkonflikt, den Sprachenstreit; der hauseigene Verlag bietet auch ein passendes Buch an: "Leben in Babel. Eine Lesereise in die belgische Seele" (Marion Schmitz-Reiners, 2003); mehrere ausgestellte Bücher über König Baudouin I. und König Albert II. verdeutlichen die loyalistische Ausrichtung des Verlagshauses; andere Buchtitel aus dem Verlagsprogramm kreisen – neben lokal- und regionalkundlichen Publikationen – um die Themen Einwanderung und Hybrididentität ("Deutsche unter Belgiern. Grenzüberschreitende Erfahrungen in Ostbelgien, Wallonien und Flandern", Rosine De Dijn/Willi Filz, 2011), nationalstaatliche Grenzen ("Reise zu den letzten Grenzen. 100 Tage freie Fahrt durch die Festung Europa", Roland Siegloff, 2011), oder behandeln lokalgeschichtlich/memoirenhaft die Stellung von Eupenern als Dienstmädchen ("In Stellung. Einblicke in das Leben ostbelgischer Dienstmädchen im 20. Jahrhundert", Reiner Mathieu, 2007) und als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft ("Knechte. Einblicke in den Alltag ostbelgischer Jungmänner im 20. Jahrhundert", Reiner Mathieu, 2011), was zum Einen auf die ländliche Struktur der ostbelgischen Kantone verweist (Reminiszenzen an präindustrielle Produktionsweisen und prämoderne Herrschaftsverhältnisse), möglicherweise aber auch Hinweise auf eine ehedem subalterne Stellung der deutschsprachigen Population im belgischen Staatsverband (bis etwa in die 1960er-Jahre) liefert. Ein weiteres ausgestelltes Buch aus dem Grenz-Echo-Verlag behandelt das Massaker einer Waffen-SS-Einheit an amerikanischen Kriegsgefangnenen bei Malmédy in der Nähe von Eupen im frankophonen Teil des ehemals deutschen Gebiets 'Eupen-Malmedy' ("Was wirklich geschah. Malmedy-Baugnez – 17. Dezember 1944. Die Kampfgruppe Peiper in den Ardennen", Gerd J. Gust Cuppens, 2. Auflage 2009) – ein Kriegsverbrechen, das bis in die jüngere Gegenwart Anlass zu Kontroversen bot. Auf dem Werthplatz (heute vor allem ein Parkplatz) steht das Kriegerdenkmal aus reichsdeutscher Zeit von 1912, das zusammen mit einem "Friedensbrunnen" (in einem anderen Teil der Stadt) als örtliche Sehenswürdigkeit ausgeschildert ist. [Codes: Sprachverwendung, Spracherhalt; Sprachenkonflikt; nationalstaatliche Symbolik; symblische Artefakte, narrative Artefakte; Zugehörigkeitsrituale; Grenzen, Abgrenzung; regionale Verwurzelung; Stellung der Deutschsprachigen; Herrschaft; Mythen; Kriegsdiskurse, Zweiter Weltkrieg]
In der Eupener Zeitung "Grenz-Echo" vom 20. März 2012 (85. Jahrgang, Nr. 67) fallen – neben der üblichen Berichterstattung einer Lokalzeitung – zwei Artikel auf, in denen die Deutschsprachige Gemeinschaft konkret thematisiert wird. "'Außenbeziehungen sind für die DG eine Überlebensfrage'", überschreibt Gerd Zeimers seinen Artikel auf Seite 5 mit einem Zitat des DG-Ministerpräsidenten Karl-Heinz Lambertz. "'Es wäre fatal, diese tragende Säule für die Zukunft unserer Gemeinschaft anzusägen'", so der Politiker weiter. Die Pflege der Außenbeziehungen der DG – d.h. "die Vernetzung und die Pflege von Kontakten mit dem Rest des Landes, mit den Nachbarregionen (im Rahmen der Euregio Maas-Rhein und der Großregion Saar-Lor-Lux), mit dem benachbarten oder entfernten europäischen Ausland" – sei nachgerade "'eine Überlebensfrage' für die DG", wie der recht offiziöse Artikel nochmals betont. Das Wort "Überlebensfrage" taucht insgesamt drei Mal auf und verweist auf die offenbar eminente Bedeutung einer politischen Strategie der DG-Regierungsebene. Diese Strategie, so ist abzulesen, zielt auf eine weitere Außenrepräsentation und auch diplomatische Verankerung der Deutschsprachigen Gemeinschaft als europäischer/belgischer Gliedstaat. [Codes: Autonomie; Verteidigung, Fortbestand]
Ein weiterer Artikel in der selben Zeitungsnummer stellt (auf Seite 7) den Tagungsband "Zoom 1920 2010. Nachbarschaften neun Jahrzehnte nach Versailles" aus dem hauseigenen Grenz-Echo-Verlag vor, herausgegeben von Christoph Brüll (Universität Lüttich). Unter der Überschrift "Eupen-Malmedy im Rückblick auf Versailles ... als Trostpreis?" fasst Redakteur Heinz Warny u.a. den Buchbeitrag des Eupener Historikers Freddy Cremer zusammen, der in "schonungsloser Deutlichkeit" analysiert, wie "der Versailler Vertrag Geschichte und Erinnerung der deutschsprachigen Belgier einem aufgedrückten Stempel gleich prägte": "Die offizielle und vorgegebene Deutung, dass die Ostkantone 'in den Schoß der belgischen Familie zurückgekehrt' waren, durchdrang die Betreuung des Gebietes durch die Brüsseler Behörden und förderte in Eupen-Malmedy eine Stimmung, in der viele Ostbelgier sich von einer zu anderen Gewaltherrschaft hin gezerrt sahen." [Codes: Vergangenheit, Geschichtsdiskurs, Identitätsdiskurs]
Grenzen
Das heutige Ostbelgien ist "Grenzland seit Menschengedenken", wie Alfred Minke, der Direktor des Eupener Staatsarchivs, in einem von der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens unterstützten Tagungsband detail- und materialreich belegt (Minke 2010). "Grenzen stiften Ordnungen, Zugehörigkeiten, Zusammengehörigkeiten, die gepflegt, erhalten, gesichert, verteidigt, erzählt, begründet und erinnert sein wollen (...)" (Hartmann 2000, S. 16). Das Markieren von Grenzen und ihre diskursiven Begründungen können aus Sicht der Nationalismus- und Ethnizitätsforschung gar als moderne Meta-Erzählung verstanden werden: "Ein an sich unplausibles und schwer praktikables System der Grenzziehungen wurde zu einer Selbstverständlichkeit, zu einer gewaltigen säkularen Religion" (Elwert 1989, S. 440). In diesen quasi-religiösen, rückversichernden Narrativen oder Mythen wird Geschichte rekonstruiert. "Menschen geben den Ereignissen Sinn, indem sie sie in die Form von Erzählungen bringen – als 'Geschichte' ordnen" (ebd., S. 441). Man könnte dies mit Roland Barthes als ein Verfahren bürgerlicher Ideologie deuten: "etwas Zufälliges" soll als "etwas Ewiges" begründet werden (Barthes 2010, S. 294f.). In der großen Erzählung, im Mythos verlieren die Dinge "die Erinnerung daran, daß sie hergestellt worden sind" (ebd., S. 295). Das Forschungsprojekt steht demnach vor der Frage: Wo sind die Grenzen? Wer hat sie gezogen? Was trennen diese Grenzen? Zu welchem Zweck? Was ist ihre Bedeutung? Wer konstruiert die Bedeutungen, die dahinter stehen? Also: Welchem "roten Faden" folgen die "Grenzmarkierungen" der kollektiven Identität im Alltag der Deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgiens? In diesem Sinne soll die Erzählebene (Narrative, Mythen) mit der materiellen Ebene (Artefakte) verknüpft werden.
Selbstdarstellung
23.3.2012. Die obigen Kernthemen und Codes spiegeln sich auch in offiziellen PR-Materialien wider. So heißt es in einer Selbstdarstellungs-Broschüre des Ministeriums der Deutschsprachigen Gemeinschaft von 2006: "[D]ie Deutschsprachige Gemeinschaft (...) liegt im Osten Belgiens, dort wo das Königreich an Deutschland, Luxemburg und die Niederlande angrenzt. Eine Grenzregion also, am Schnittpunkt der germanischen und romanischen Kultur. Offenheit und internationaler Austausch sind hier ebenso selbstverständlich wie die Mehrsprachigkeit der Bevölkerung" (S. 22). Das Titelblatt der aufwändig gestalteten Broschüre im A4-Querformat zeigt drei Fotos in Sepia-Tönen: ein barockes Amtsgebäude mit der belgischen und der DG-Flagge (die Ebene der historisch legitimierten gesamtstaatlich/regionalen Herrschaft); eine Nahaufnahme von Pralinen (ein Symbol der "Belgitude"; zugleich ein belgisches Image-Klischee); ein blonder Junge an einem leicht verwitterten Grenzstein im Wald (Vergangenheit und Gegenwart einer einstmals umstrittenen Region; der Wald zugleich ein deutscher Urmythos). Das letzte Bild der Broschüre (S. 23) ist eine Farbaufnahme eines Autobahnknotenpunkts bei Eupen mit blauen Richtungsweisern nach "Paris/Maastricht/Liège", nach "Trier/St. Vith/Luxembourg/Spa/Verviers" und nach "Aachen/Düsseldorf/Köln", zeigt also die zentraleuropäische Lage und die Verbundenheit der Deutschsprachigen Gemeinschaft. Der dazugehörige Imagefilm "DG. Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens. Eine europäische Region" (Ministerium der Deutschsprachigen Gemeinschaft 2006, CD-ROM) zeigt die Region kongenial als lebens- und liebenswerte, wirtschaftlich aufstrebende Gebietskörperschaft mit reichhaltigem Bildungs-, Kultur- und Freizeitangebot. Der 11-minütige Film beginnt mit animierten Fotostills, über die grundlegende Statistiken zur Deutschsprachigen Gemeinschaft gelegt werden. Als Klammer des Films, der aus relativ kurzen Einstellungen und Syntagmen besteht, die ineinander überblenden, fungieren zwei Auftritte eines jungen Mannes mit Fahrrad in rot-blauer belgischer Postuniform. Erste Szene: Vor einem beflaggten Amtsgebäude mit korinthischem Portikus und vergoldeten Säulenkapitellen – in seiner architektonischen Formensprache als Verweis auf eine Blütezeit gemeinsamer klassisch-europäischer Kultur deutbar – sagt der Postbote (mit ripuarischem Dialekteinschlag): "Ich bin Belgier. Ich bin deutschsprachiger Belgier. Ich lebe und arbeite gerne in der Deutschsprachigen Gemeinschaft." Amtspalais und Postuniform symbolisieren hier den staatlich-hoheitlichen Bereich, der Briefträger schafft die Verbindung zum Alltag, zum "kleinen Mann". Schwenk auf den Postkorb, aus dem der Briefträger eine Postkarte mit dem Motiv einer Fotografie der Erdkugel herausnimmt. / Überblende zu Sequenzen, in denen Belgien, seine Regionen und Sprachgemeinschaften erklärt werden. Weitere Sequenzen thematisieren (in dieser Reihenfolge) den Minderheitenschutz in der Europäischen Union, die Selbstverwaltung der Deutschsprachigen Gemeinschaft, die Bürgerorientierung der DG-Parlamentarier, das Schulwesen, dessen Mehrsprachigkeit als Vorteil, das berufliche Ausbildungswesen, den Arbeitsmarkt, die Sprachkenntnisse der Arbeitnehmer, Industrie, Arbeitsmarkt, den "Standort DG" (Kommentarton), Natur, Landschaften, Erholung, Tourismus, Sehenswürdigkeiten, die Gastronomie, Brauchtum, Feste, Kirmes, Märkte, Umzüge, Kunstsammlungen, Theateraufführungen, Konzerte, Karneval (Kommentarton: "das jecke Treiben"; O-Ton einer mittelalten Dame auf Karnevalsumzug: "Das ist alles eine Frage der Mentalität"), Altenpflege, soziales Netz (Kommentarton: "gelebte Gemeinschaft"), deutschsprachige Medien, Grenz-Echo, Belgischer Rundfunk (O-Ton BRF-Redakteur: "Dass es uns gibt, hat sehr viel mit den Menschen zu tun, natürlich auch mit der Historie. Es gibt uns seit 60 Jahren, und es hat eben sehr viel damit zu tun, dass die Menschen hier in Ostbelgien über sehr viele Jahre, über Jahrzehnte, ihre Identität gesucht haben und inzwischen, zum Teil zumindest, gefunden haben"), wechselvolle Geschichte, Grenzverschiebungen/Staatswechsel 1815 bis 1945, Sprachengesetzgebung 1960er-Jahre, eigenes Parlament ab 1970er-Jahre, erste Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft 1974, heimatkundliche Museen, alte Architektur (Kommentarton: "Die Menschen in der DG sind stolz auf ihre Heimat"). Die gezeigten Eupener Tuchmacherhäuser (ca. 18. Jahrhundert) verweisen historisch auf ein stolzes, sich vom Adel emanzipierendes Bürgertum, das seine Autonomie aus seinem Wohlstand heraus legitimiert. / Die letzte Szene zeigt wieder den jungen Postboten und seinen ähnlich formulierten Aufsager vom Anfang des Films: "Ich bin Belgier. Ich bin deutschsprachiger Belgier, und meine Heimat ist die Deutschsprachige Gemeinschaft", gefolgt von Bildimpressionen aus Eupen. Der Film schließt mit Imagebildern und den Wortmarken "Tradition leben" (Bild: junge blonde Frau vor Burgruine [Burg Reuland] mit Plakette "geschütztes Denkmal"; vgl. Broschüre: S. 15) / "Gemeinschaft leben" (Bild: ältere Menschen mit junger Pflegekraft im weißen Kittel vor Marienstatue; vgl. Broschüre: S. 13) / "Europa leben" (Bild: Autobahnwegweiser, s.o., Broschüre: S. 23) / "Ostbelgien leben" (Bild: Junge am Grenzstein im Wald, s.o., Broschüre: Titelblatt und S. 9). Geschichte und Gegenwart, die nationale und supranationale Ebene werden also im Regionalen fokussiert: so das offizielle Selbstbild der Deutschsprachigen Gemeinschaft. [Codes: Public Relations, persuasive Kommunikation; Symbole, Images, Selbstbild; Identität; Autonomie; Heimat; Vergangenheit, Zukunft; Produktion, Konstruktion, Kontrolle; Narration, Narrativ, Erzählmodell, Mythos]
Selbstbild
Eine repräsentative demoskopische Befragung (Basis: DG-Bevölkerung 16+ in Privathaushalten, Zufallsstichprobe, Mai/Juni 2011, n=1.013) im Auftrag der Deutschsprachigen Gemeinschaft (polis+sinus 2011) vermittelt ein aktuelles Bild in der Population: Rund 81% der Befragten sind belgische Staatsbürger, 18% besitzen einen deutschen und 1% einen niederländischen Pass – Ostbelgien ist also durchaus für Einwanderer attraktiv; vor allem die Nähe zu Aachen macht sich bemerkbar. 90% der Befragten bezeichnen Deutsch als ihre Muttersprache, nur 7% Französisch. Das Merkmal "Muttersprache Deutsch" ist quer durch alle Altersgruppen stabil: Die Verwendung der deutschen Sprache ist also nicht rückläufig. 56% sprechen und verstehen das regionale Plattdeutsch, tendenziell, aber nicht ausschließlich, sind dies ältere Befragte. Mit Blick auf die Identität und Eigenbezeichnung der Population aufschlussreich ist das Item "Wenn Sie jemand fragt, in welcher Gegend Sie zuhause sind, was würden Sie da sagen?" (S. 16). Bei nur einer Antwortoption geben 29% der Befragten "Ostbelgien" zu Protokoll, 22% "Deutschsprachige Gemeinschaft", 15% "Belgien", sowie je nach Wohnort 15% "Eifel/Süden der DG", 14% "Eupener Land/Norden der DG", noch 3% "Europa" – aber niemand nennt die "Wallonie" seine Heimat (0%). Auf einer vierstufigen Likert-Skala wird die Deutschsprachige Gemeinschaft von den Befragten durchaus passend als überwiegend "grün", "ländlich", "gemütlich", "übersichtlich", "freundlich", "ruhig" und "traditionsverbunden" (60 bis 48% "trifft voll und ganz zu"); Items wie "offen", "multikulturell", "international", "tolerant" und "dynamisch" werden dagegen von deutlich weniger Befragten als stimmige Charakterisierungen der eigenen Population angesehen (S. 24f.). Die Erhebung ermittelte auch ein Meinungsbild, wie sich die Deutschsprachige Gemeinschaft innerhalb des belgischen Staatsverbands in Zukunft administrativ entwickeln soll. "Auf die Frage, ob das deutsche Sprachgebiet im Rahmen der anstehenden Staatsreform weiter Teil der Wallonie bleiben oder eine gleichberechtigte vierte Region werden soll, sprechen sich 39% dafür aus, alles so zu lassen, wie es heute ist und 52% wollen die gleichberechtigte vierte Region" (S. 68). Die zu Beginn der Erhebung gestellte (offene) Frage, was subjektiv "die wichtigsten Aufgaben und Probleme [sind], die in der DG angepackt werden sollten", relativiert auf ernüchternde Weise indes viele der oben referierten Daten: Mit 18% der Nennungen liegen Themen rund um den Verkehr (Verkehrsprobleme/-beruhigung/Straßenbau/-zustand/öffentlicher Personennahverkehr) ganz vorn. Die Lebenswirklichkeit ist oft bodenständiger und profaner als die im Alltag ohnehin selten reflektierten Fragen nach Identität und Politik; aber Verkehrswege – früher ebenfalls "Kommunikation(en)" genannt und nach Innis (1950) einstmals eine konstitutive Grundlage für das Entstehen von Imperien und später Nationalstaaten – sind gerade in einem relativ peripheren Grenzland wichtige Verbindungen. [Codes: Heimat; Verwurzelung; Sprache; Identität; Regionalität; Selbstbild; Alltag]
Grenzziehungen und Identitäten
28.3.2012. Ich begebe mich auf die Suche nach den Grenzen der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens: nicht im physischen Sinne (diese Markierungen sind im Territorium und auf Landkarten klar definiert), sondern auf der Ebene der ethnologischen Literatur zur Identität von Populationen. "Boundaries and identity are (...) different sides of the same coin, with the former creating and being created through the latter (...)" (Chan/McIntyre 2002, S. xv). Als soziales Konstrukt werden Grenzen permanent in Frage gestellt und neu ausgehandelt; sie sind dynamisch, "in a constant state of flux" (ebd.). Dabei wird in der ethnologisch orientierten Forschung zunehmend anerkannt, dass "the construction of boundaries is achieved through narrativity which informs us how we make sense of the social world and constitute our social identities" (ebd.). Grenzen sind also Resultat eines Diskurses, sie entstehen in der Interaktion mit anderen Akteuren. Eine Community wie die DG konstruiert und konstituiert sich demnach auf der Basis von Aushandlungen über ihre Grenzen: wer gehört dazu, wer nicht; was ist 'das Eigene', was ist 'das Andere'?
Die Antworten auf diese Fragen können von den Populationsmitgliedern 'primordial' oder 'situativ' gegeben werden. Primordiale Identität "bezieht sich auf die Vorstellung, daß die in frühester Kindheit erworbenen Merkmale wie Sprache, Abstammung und Religion die Mitglieder ethnischer Gruppen affektiv verbindet und sich nur so ein entsprechendes Gruppenselbstverständnis ausbildet" (Orywal/Hackstein 1993, S. 595). Das Konzept der situativen Identität dagegen "betont, daß der Rekurs auf gemeinsame Merkmale von der Situation abhängig ist, in der sich die Mitglieder der Gruppen zum Zeitpunkt des Bestimmens und des Aushandelns ethnischer Grenzen befinden" (ebd.). Beide Ansätze werden gegenwärtig kombinatorisch, in Synthese verfolgt.
Ethnizität ist etwas "that inheres in every group that is self-identifying – or at least that it ought to be considered as such" (Chapman et al. 1989, S. 15). Wenn Ethnien, auch Nationen (als historisch relativ junges Phänomen), als "kulturelle Artefakte" zu sehen sind (Elwert 1989, S. 441), die "in Form von Erzählungen" (ebd.) in eine sinnvolle Ordnung gebracht werden, dann können 'Wir-Gruppen' wie Ethnien – und übergeordnet auch ihr modernes Organisationsprinzip: Nationen – auch imaginiert, erfunden werden. Dieser Analyseansatz ist für ganz Belgien insofern von Belang, da das Königreich erst 1830 geschaffen worden ist und bis in die Gegenwart um seine nationalstaatliche Form, seine verbindende Erzählung ringt. Eine Nation "is an imagined political community – and imagined as both inherently limited and sovereign" (Anderson 1991, S. 6). Dies impliziert keineswegs, dass diese Nation oder ethnische Gruppe nicht genuin oder gar 'falsch' ist: "Communities are to be distinguished, not by their falsity/genuineness, but by the style in which they are imagined" (ebd.). Formen, Medien und Narrative, in denen eine ethnische Gruppierung 'sich erzählen' kann, sind nach Anderson (1991, S. 37ff., 163ff.) etwa Bücher (in einer eigenen Sprache), Zensen, Landkarten und Museen, die alle das Ziel haben, kollektive Prozesse des Erinnerns und des Vergessens (ebd., S. 187ff.) in eine ordnende und damit legitimierende Form zu bringen. Dass Anderson sich bei seinen Ausführungen auf den Kolonialstaat (europäische Mächte und ihre Besitzungen in Übersee) bezieht, ist mit Blick auf Ostbelgien insofern von Interesse, da das Königreich Belgien das ihm 1920 von Deutschland abgetretene Gebiet von 'Eupen-Malmedy' (zeitgenössische belgische Sprachregelung: "les cantons rédimés"; nach van Istendael 2011, S. 177, oder "la Belgique récupérée"; nach Cremer 2012, S. 125) zunächst wie eine Kolonie unter dem Diktat eines Militärgouverneurs (mit langjähriger Diensterfahrung in Belgisch-Kongo) verwaltet hat (van Istendael, S. 178; Wenselaers 2008, S. 49ff.).
Urbelgisch? Oder Kolonie?
Kollektives Erinnern und Imaginieren – und somit Identität – hat also auch immer ewas mit Herrschaftsausübung zu tun. Die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens, so ließe sich aus ihrer Historie schließen, versucht derzeit ihre eigenen, autonomen Identitätsnarrative zu schreiben: Diese könnten vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit preußisch-deutscher Gebietshoheit (1815-1920), zunächst weitgehend ungeliebter belgischer Herrschaft (1920-40) und dem Intermezzo der deutschen Annexion unter diktatorischen Vorzeichen (1940-44) als verspätet "post-imperial" bezeichnet werden. "Unmittelbar nach der Befreiung vom NS-Regime sind in Ostbelgien Geschichtsstandards geschaffen worden, die eine hohe Halbwertzeit haben und manchmal beharrlich wie eine Restgröße bis in die Gegenwart fortwirken (...), wodurch einer differenzierten Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit für viele Jahrzehnte der Boden entzogen wurde" (Cremer 2012, S. 127). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass einer Umfrage aus dem Jahr 1998 zufolge "nur 37% der Abiturienten aus der DG wussten, dass [dieses] Gebiet erst seit dem Ende des Ersten Weltkrieges zum belgischen Staat gehört" (ebd., S. 130). Das Narrativ der quasi 'urbelgischen' Zugehörigkeit der Ostkantone scheint in der staatlich kontrollierten Sphäre der Schulausbildung lange perpetuiert, vorherige landesherrliche/staatliche Zugehörigkeiten des Territoriums diskursiv ignoriert worden zu sein. Amnesie haben sich die deutschsprachigen Belgier teilweise auch selbst verordnet: so Anfang der 1980er-Jahre bei der Frage nach der Bezeichnung der künftigen Autonomieregion ('Deutsche' oder 'Deutschsprachige' Gemeinschaft?). "Ein Sprecher der Mehrheit [des damaligen 'Rats der deutschen Kulturgemeinschaft'] forderte die Ratsmitglieder auf, für den Begriff 'deutschsprachige Gemeinschaft' zu stimmen, 'um unserer Bevölkerung das Vergessen leichter zu machen'" (Cremer 2012, S. 128 mit einem Zitat aus dem offiziellen Ratsprotokoll). Es gab offensichtlich viel zu vergessen: "Amnesie als politisch verordnete Therapie, um von der Bürde der Vergangenheit zu befreien!" (ebd.). Die 'fehlende' oder verschwiegene Vergangenheit bedingt allerdings auch eine Leerstelle der kollektiven Identität, die noch gefüllt werden muss.
Der ostbelgische Autor Freddy Derwahl charakterisiert seine Heimatregion durchaus passend als die einer "'kleinen Welt des Schweigens', die sich selbst zu genügen scheint" (zitiert in Schwieren-Höger/Sackermann 2003, S. 31). Keineswegs muss die derzeit geschriebene oder noch zu schreibende Identität der Ostbelgier eine rein selbstbezügliche, ausschließliche, einheitliche sein. Vielmehr ist je nach Kontext von einer multiplen, 'hybriden' Identität auszugehen: "a group or an individual has no one identity, but a variety (...) of possibilities, that only incompletely or partially overlap in social time and social space" (Chapman et al. 1989, S. 17). Man kann gleichermaßen 'Bengali' wie auch 'Brite' sein; 'Muslim' und 'Franzose'; oder zugleich 'Katholik', 'Antwerpener', 'Flame', 'Europäer' – oder eben 'Deutschsprachiger' und 'Belgier' oder 'Deutschsprachiger Belgier' oder was auch immer. "Identities are localizing and globalizing at the same time. They seem to be more and more constituted by overlapping cultural fragments, instead of giving reference to single national frames" (Lie 2003, S. 149).
"Invented Traditions"
Hobsbawm und Ranger geben in ihrem bekannten Sammelband "The Invention of Tradition" von 1983 zahlreiche Beispiele für erfundene kollektive Traditionen. "'Traditions' which appear or claim to be old are often quite recent in origin and sometimes invented" (Hobsbawm 1983, S. 1). "'Invented tradition' is taken to mean a set of practices (...) which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past. In fact, where possible, they normally attempt to establish continuity with a suitable historic past" (ebd.). Ein prominentes Beispiel hierfür ist etwa der relativ rezente, sich aber altertümelnd-'traditionell' gebende Einsatz von Kilts in Tartan-Mustern und von Dudelsäcken in Schottland (vgl. Trevor-Roper 1983), der im Kontext von aktuellen Loslösungsbestrebungen von Großbritannien mehr als nur 'folkloristische' Untertöne hat. Ein anders gelagertes, aber für Ostbelgien durchaus instruktives Beispiel von erfundenen und in ihrer Fiktion der Bevölkerung auferlegten (und von dieser in ihrer Fabriziertheit sogar akzeptieren) Traditionen analysiert Haun (2008) in ihrer Studie zur 'Erfindung' der 'Osterinsel' im Südpazifik, die es trotz der Anführungszeichen als chilenisches Territorium real gibt (Isla de Pascua/Rapa Nui), deren Identität und Gebräuche aber in vielfältigen eurozentrisch kolonialen/imperialen Prozessen der Fremdbildzuschreibung seit dem 18. Jahrhundert (dem Zeitpunkt der 'Entdeckung' der abgelegenen Insel durch niederländische Seefahrer) konstruiert worden sind. In vielerlei Hinsicht ist Ostbelgien eine Art 'Osterinsel' mitten in Europa: ein Ort, an dem vielfältige Imaginationen aufeinandertreffen und eine Geschichte simulieren, die es so (bisher) entweder nicht gegeben hat oder die 'verschwunden' ist. Jean Baudrillard betrachtet in seinem Aufsatz "La précession des simulacres" von 1978 aus erkenntnisphilosophischer Perspektive den Vergnügungspark Disneyland als "perfektes Modell all der verzwickten Ordnungen von Simulakra" (Baudrillard 1978, S. 24). Demnach ist "das Imaginäre von Disneyland (...) weder wahr noch falsch, es ist eine Dissuasionsmaschine, eine Inszenierung zur Wiederbelebung der Fiktion des Realen" (ebd., S. 25). Ein nahezu perfektes Beispiel für ein solch 'hyperreales' Simulakrum schildert Reynolds (2012) in seiner Studie zu Retrophänomenen in der Populärkultur, in der ein Protagonist eines Rock'n'Roll-Revivals im Stil der 1950er-Jahre zu Protokoll gibt: "'I insisted we do the music the way it was remembered instead of the way it was'" (Reynolds 2012, S. 284) – z.B. doppelt so schnell gespielt und in einem anderen Sound.
Revival und Neuerfindung
Belgien ist kein Vergnügungspark und nur begrenzt ein Phänomen der Popkultur, aber: Auf die belgischen Ostkantone übertragen ließe sich folgern, dass die identitätsorientierten Erzählungen, die in der Deutschsprachigen Gemeinschaft kulminieren und sich dort gleichermaßen wie in einem Brennglas treffen, eine Art In-Szene-Setzung von Geschichten zur Wiederbelebung einer 'Fiktion' darstellen, zum '(Wieder-)Beleben' von etwas, das es exakt so noch nicht gegeben hat – im vorliegenden Fallbeispiel von Belgien (und von "Belgitude") und zugleich einer distinkten 'ostkantonalen' Identität. In den Ostkantonen, einer 'Leerstelle' der Identität, manifestiert sich möglicherweise ein 'anderes Belgien', das es so in anderen Landesteilen nicht gibt. Ein Blick auf die belgische Geschichte und die politische Gegenwart Belgiens offenbart, dass dieser Interpretationsrahmen nicht allzu weit hergeholt ist. Belgien sucht sich (vgl. van Istendael 2011; Judt 2005, S. 708-713) und muss sich neu erfinden; ebenso ist die Deutschsprachige Gemeinschaft des Landes auf der Suche nach einer eigenen Geschichte ihrer selbst – und dies in Abgrenzung auch vom Nachbarn Deutschland (s.o.). Das Kriterium der "Selbstzuschreibung" als Ethnie ist hierbei nach Elwert (1989, S. 447) das entscheidende Definitionskriterium, kann aber ohne eine entsprechende Fremdzuschreibung von außen als Erzählung kaum als stabil angesehen werden. "Die Fremdzuschreibung muß als Anerkennung von Identität angestrebt werden" (ebd.).
2.4.2012. Die solchermaßen konstruierte Geschichte, die 'erfundene Tradition' ist die Grundlage für weitere Handlungen im sozialen Alltag einer ethnischen Gruppierung oder Nation. Alte Materialien oder Artefakte können dabei durchaus funktional im Kontext neuer Zwecke oder neuer Diskurse verwendet werden. Im Kern erfundener Traditionen stehen der Aufbau oder das Symbolisieren von "social cohesion or the membership of groups, real or artificial communities" (Hobsbawm 1983, S. 9): mithin sind sie "exercises in social engineering" (ebd., S. 13). Scharte (2010) analysiert in seiner auf zahlreichen Archivalien beruhenden Studie, wie die preußisch-deutschen Grenzkreise Eupen und Malmedy im 19. Jahrhundert "nationalisiert" wurden (Scharte 2010, S. 162), etwa in Form von offiziellen ritualisierten Gedenkfesten und Denkmälern, die den 'treuen Dienst am (deutschen) Vaterland' beschworen und Siege über den 'Erbfeind' Frankreich feierten. Nach dem Anschluss an Belgien 1920, spätestens nach der erneuten Eingliederung ins Königreich 1944, mussten die deutschsprachigen Neubelgier ihr Verhältnis zur Mehrheitsbevölkerung klären. Über die eigene Vergangenheit unter früheren Landesherren herrschte lange Schweigen; eine eigene, distinkte Identität war unter den Vorzeichen von Illoyalitätsverdacht und pauschalen Kollaborationsvorwürfen nicht opportun. Es sind aber gerade Minderheiten, von denen eine klare Identität quasi erwartet wird: "It is notorious that minority groups are seen both to have particularly coherent identities, and to find that their real identities are nevertheless curiously threatened and elusive" (Chapman et al. 1989, S. 18). Denn interessanterweise berührt diese Erwartung an eine abgrenzbare Identität einer Minderheit zugleich den wunden Punkt des Fehlens einer definierten Identität der Mehrheitsgesellschaft – "silence on the subject of majority identity" (ebd.). Im Falle der deutschsprachigen Belgier betrifft dies gleich zwei Mehrheitsgesellschaften: zum Einen das im politisierten Sprachen- und Kulturstreit zwischen Wallonen und Flamen oft paralysiert erscheinende Belgien mit seiner oft schwer zu fassenden Identität (vgl. van Istendael 2011, S. 11-13) – und zum Anderen das 'linguistische Mutterland' Deutschland, dessen Identitätsdiskurse regelmäßig um seinen historisch abgeschlossenen, als Topos allerdings stets wieder in Erinnerung gerufenen aggressiven Nationalismus (vor allem im Wilhelminischen Kaiserreich 1871-1918 und während der nationalsozialistischen Diktatur 1933-45) mit seinen ausgrenzenden Eigenschaften kreisen.
Belgitude, Germanness
Belgiens "Markenkern" – um einen Ausdruck aus dem Marketing und dem Branding zu verwenden – ist unscharf (Stichting Marketing 2010). Die Versäulung und Zerfaserung des prononciert föderalen Landes verdeckt eine gemeinsame Identität. Belgien hat in den letzten Jahrzehnten vor dem Hintergrund des flämisch-wallonischen Sprachenstreits (vgl. Judt 2005, S. 710-712) eine Kultur des Aushandelns, Austarierens von Interessen entwickelt, bei der die beiden Mehrheits-Sprachgruppen in separaten Öffentlichkeiten agieren. Die linguistischen Gruppen grenzen sich voneinander ab, zugleich aber auch von den sprachlich jeweils verwandten Nachbarländern. Das gemeinsam "Belgische", die "Belgitude", ist eher im Sich-Einrichten im Kompromiss, im gelegentlich anarchischen Durchlavieren zu finden. Was Belgier vereint, ist ihre Verachtung korrupter Behörden und inkompetenter Politiker, die den Sprachenstreit vor allem für eigene Machtinteressen missbrauchen und den Staat und sein Verwaltungshandeln teilweise lahmlegen. Belgier zu sein heißt vor diesem Hintergrund, sich der offiziellen Identitätskonstruktion zu widersetzen (Van den Abbeele 2004). Belgien ist somit ein Beispiel für einen "post-nationalen" Staat, der sich mit anderen Attributen definiert als einer einheitlichen Sprache: "(...) states (...) can conceivably find ways of continuing without nationhood, and might find other ways of establishing their worth (...)" (Hannerz 1996, S. 81f.). 'Belgitude' ist möglicherweise im Unfertigen, Ungeordneten begründet, im "Dazwischen". Auch dies ist ein Abgrenzungsprozess, bei dem das Unordentliche das 'Eigene' ist.
Für Deutschland dagegen ist das Konzept einer multiplen und quasi dezentralen Identität noch relativ neu, worauf von Zeit zu Zeit aufkommende Debatten um das Themenfeld "deutsche Leitkultur" verweisen; die deutsche Identität ist unklar. Eine kulturanthropologische Studie über "Germanness" von 1989 argumentiert: "Despite the view from without, the German case demonstrates that majority cultural status does not necessarily confer an ethnic identity that is dominant, or even secure. On the contrary, Germanness as experienced from within has a fragile, ambiguous quality that Germans themselves find highly problematic" (Forsythe 1989, S. 137f.). Als selbstzugeschriebene Kerncharakteristika deutscher Identität erscheinen "cleanliness, stability, Whiteness, Christianity, familiarity, and reliability (...). In short, Germanness is very concerned with order" (ebd., S. 151, 150). Ordnung steht im Mittelpunkt. Das Fremde ist das Dunkle, Unsaubere, Unordentliche: die Bedrohung. "Germanness" ist vor allem als Abgrenzung ("boundary-drawing in a cultural and social sense") konzipiert (ebd., S. 150), bei dem allerdings das Unordentliche das 'Fremde' und somit Bedohliche ist.
Die Identität der deutschsprachigen Belgier ist ebenso Resultat eines Abgrenzungsprozesses. Diese Abgrenzung geht vor allem in Richtung Wallonie (die frankophone Region, der die DG territorial zugehört) und Deutschland (das Land, dem die Bewohner des Gebiets zwischen Eupen und Sankt Vith einst zugehörten). Dirk Schleihs bezeichnet sich in einem Sammelband des Eupener Grenz-Echo-Verlags zur ostbelgischen Identität vor allem als Nicht-Deutscher und Nicht-Wallone. Michael Dujardin berichtet in dem selben Band "vom Undasein" in Ostbelgien (in Bach 2003, zit. nach der Synopse von Wenselaers 2008, S. 174: "niet-Duitser en niet-Waal"). Die Identität als deutschsprachiger Belgier könnte demnach als ein Zwischen- oder Schwellenzustand charakterisiert werden, was Turner (1964) auch als "Liminalität" bezeichnet hat. In diesem Zwischenraum, in dieser Leere (die teilweise auch ein Schweigen über die eigene Vergangenheit ist) können Narrative gebildet werden, die die Gruppe der deutschsprachigen Belgier neu definiert. In solchen rückversichernden Narrativen oder Mythen wird Geschichte rekonstruiert, wie oben bereits ausgeführt worden ist. "Menschen geben den Ereignissen Sinn, indem sie sie in die Form von Erzählungen bringen – als 'Geschichte' ordnen" (Elwert 1989, S. 441); "etwas Zufälliges" soll so als "etwas Ewiges" begründet werden (Barthes 2010, S. 294f.). In der großen Erzählung, im Mythos verlieren die Dinge "die Erinnerung daran, daß sie hergestellt worden sind" (ebd., S. 295), aber im Alltag begegnen uns die Artefakte dieser Historizität, mit denen sich die Prozesse des Sich-so-Erinnern-Wollens rekonstruieren lassen. In den Worten von DG-Ministerpräsident Karl-Heinz Lambertz: "(...) identiteitsvorming is geen eenduidig proces. (...) de DG is geen historisch gegroeide eenheid, ze bestaat pas sinds 1920" (ndl. zit. nach Wenselaers 2008, S. 177). Die Identität der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens ist also noch dabei, sich zu formen.
Heimat?
10.4.2012. "Was ist Heimat?", fragt das deutsche Wochenmagazin Der Spiegel in seiner aktuellen Nummer (Heft 15/2012) und begibt sich auf "Spurensuche in Deutschland" – bezeichnenderweise mit elf regional unterschiedlich gestalteten Titelmotiven (Bajuwaren mit krachledernen Trachten für Bayern, die Ruhr bei Hattingen für Nordrhein-Westfalen, Elbauen mit Dresden-Panorama für Sachsen usw.). Jeder Region ihr eigenes Titelmotiv; keine "Heimat", auf die sich alle einigen könnten? "Heimat bleibt ein Thema für die Deutschen, ein schwieriges Thema" (Kurbjuweit 2012, S. 62). Der Begriff an sich ist – nach dem Missbrauch durch den Nationalsozialismus – geradezu verdächtig. "Home, homeland, Heimat. It is around the meaning of European culture and identity in the new global context that this image – this nostalgia, this aspiration – has become polemically activated", schreiben David Morley und Kevin Robins in ihrem Buchkapitel "No Place Like Heimat: Images of Home(land)" (Morley/Robins 1995, S. 87). Die "Heimat" bleibt umstrittenes Terrain, zumal in der Moderne mit ihren transnationalen Verbindungen, in denen der Nationalstaat teils in Frage gestellt wird, teils aber auch (und dies vor allem in globaler Perspektive) stark erscheint wie lange nicht. In den "kollektiven Heimatbegriff" der Deutschen eingeflossen sind Topoi wie "Natur, Dorf, Familie, Schönheit, Gemeinschaft, Einfachheit" (Kurbjuweit 2012, S. 62): eine Sehnsucht, die oft der Lokalität verhaftet ist – einer Ortsverbundenheit, die selbst wiederum oft genug von der Ortlosigkeit des Internetzeitalters bedroht scheint. Im Kern ist "Heimat" ein Abgrenzungsprozess: was und wer gehört dazu, was und wer nicht? Gerade am deutschen Fallbeispiel wird deutlich: "The romantic utopia of Heimat, with all its connotations of remembrance and longing has been about reconnecting with a national heritage and history" (Morley/Robins 1995, S. 101). Fragen nach der Authentizität eines Heimatkonstrukts sind in einem solchen Kontext schwer zu beantworten. Morley und Robins kommen zu einem skeptischen Fazit: "There can be no recovery of an authentic cultural homeland. (...) In this world, there is no longer any place like Heimat. More significant, for European cultures and identities now, is the experience of displacement and transition. (...) What is most important is to live and work with this with this disjuncture and ambivalence. Identity must live out of this tension" (Morley/Robins 1995, S. 103f.). Im Falle der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens scheint dieses Spannungsfeld zwischen Trennung und Zwiespältigkeit, dieses Dasein zwischen zwei Ländern oder Kulturen, bisher keine "belastbare kollektive Identität" hervorgebracht zu haben (Cremer 2012, S. 141; s.o). Die postnationale Entität "Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens" bietet aber zumindest, als selbst-titulierte "Gemeinschaft", die Möglichkeit von "Brüderlichkeit": "Those living are of one large family. Yet this is made clear (...) through shared symbolic references to the past, to the ancestors held in common" (Hannerz 1996, p. 83).
Neutrale Zone, belgisiert
13.4.2012 Fahrten nach Eupen, Lontzen und Kelmis/La Calamine, entlang der deutsch-französischen Sprachgrenze. Kelmis ist für Kommunikationswissenschaftler von besonderem Reiz, denn hier wurde 1890 Emil Dovifat geboren, der spätere Zeitungswissenschaftler und Lehrstuhlinhaber in Berlin, einer der Gründungsväter der deutschen Publizistikwissenschaft. Die Gemeinde Kelmis hieß damals noch Neutral-Moresnet und war – ein europäisches Kuriosum – von 1815 bis 1919 eine staatenlose, binational verwaltete Pufferzone zunächst zwischen den Vereinigten Niederlanden und Preußen, später dann zwischen dem Königreich Belgien und dem Deutschen Reich. 1920 wurde es, zusammen mit Eupen, Malmedy und Sankt Vith, Belgien zugeschlagen. Heute ist die Gemeinde zweisprachig. Am Rathaus, einem Ziegelsteinbauwerk mit klassizistischer Formensprache aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, ist das Giebelfeld des Portikus aufschlussreich: 1952 wurde dort das Königswappen stuckiert eingefügt, umrahmt vom Landesmotto "L'union fait la force" (Einigkeit macht stark). Die Ortsmitte wird von einem Erinnerungsdiskurs geprägt, der um Krieg kreist: Schräg gegenüber vom Gemeindehaus, in Portalvorbau der Mariä-Himmelfahrts-Kirche, erinnert eine steinerne Tafel in deutscher Sprache an die Kelmiser Kriegstoten von 1914-18 – unabhängig von ihrer Armeezugehörigkeit. (In Neutral-Moresnet gab es bezeichnenderweise keine Wehrpflicht, die Gefallenen aus der Gemeinde waren also Kriegsfreiwillige). Auf dem Kirchplatz erinnert ein heroisch-monumentales Kriegerdenkmal von 1948/49 in französischer Sprache an die Toten des Vaterlands ("... morts pour la Patrie") aus beiden Weltkriegen (nach belgischer Lesart: "1914-18" / "1940-45"). Gekrönt wird das Denkmal von einer fackeltragenden Siegesfigur. Nachträglich (1970 bzw. 1995) angebracht wurden Inschriften, die an 25 bzw. 50 Jahre Frieden in der Region erinnern. So langen Frieden gab es hier nicht oft.
Kaum 80 Meter entfernt, vor dem Supermarkt, finden sich weitere Spuren belgisch-nationaler Erinnerungsikonik. Eine kleine Plakette an einer sehr niedrigen steinernen Stele widmet einen (kaum zu identifizierenden) Baum 1999 dem Regenten, König Albert II (zweisprachige Inschrift: "Baum des Königs / Arbre du Roi"). Rechts daneben erweist einen metallene Plakette an einem etwas größeren Stein dem belgischen Königshaus Respekt ("A notre / Unsere / DYNASTIE / en hommage / in Ehre", gefolgt von den Namen und Lebensdaten der belgischen Könige seit Staatsgründung 1830: Léopold I., Léopold II., Albert I., Léopold III., Baudouin I., Albert II., sämtlich übrigens aus dem Hause Sachsen-Coburg und Gotha stammend. Wiederum rechts danaben findet sich ein weiterer Stein mit einer kleinen französischsprachigen Erinnerungsplakette des belgischen Kriegsfreiwilligenverbands "Fédération Nationale des Volontaires de Guerre": "Gloire à nos volontaires de guerre / 1914-18 / 1940-45 / FNVG La Calamine". Der Riss, wer in den Kriegen, ob freiwillig oder unfreiwillig, auf welcher Seite gekämpft hatte, ging noch lange durch viele Familien.
Wieso verwundert dieses vorgefundene nationale Gedenkdiskurs-Ensemble im freundlichen Örtchen Kelmis so? Die Idee der Nation, so schreibt Roland Barthes in den 1950er-Jahren, war nach der Französischen Revolution "eine fortschrittliche Idee, die dazu diente, die Aristokratie auszuschalten" (Barthes 2010, S. 289f.). Auf dem Kelmiser Kirchplatz begegnet uns die (belgische) Nation in geballter royalistischer Manifestation: als vaterländisches Kriegerdenkmal, als Veteranengedenkstein, als "Baum des Königs", als Hommage an "unsere Dynastie". Hier ist die Aristokratie nicht ausgeschaltet, sondern erscheint als Teil einer Inszenierung des "banalen Nationalismus": "The thesis of banal nationalism suggests that nationhood is near the surface of contemporary life" (Billig 1995, S. 93). Die Zurschaustellung einer (in anderen parlamentarischen Monarchien Europas so kaum noch zelebrierten) Untertanentreue und einer ostentativ unzweifelhaften Loyalität zu Belgien und seiner Königsdynastie ist genauso banal wie instruktiv. "Das belgische Königshaus (...) ist von Haus aus von Sachsen-Coburg-Gotha, was vielleicht erklärt, warum (...) Nibelungentreue als Begriff besser passt, als uns lieb ist", schreibt Michael Dujardin über das "Undasein" als deutschsprachiger Belgier (Dujardin 2003, S. 56). Die Nation findet sich am Kelmiser Kirchplatz in ihrem ("unserem") Königshaus, als habe diese Dynastie seit ihrem Bestehen "schon immer" über Kelmis geherrscht. Die dynastische Abkunft der königlichen Familie aus einer Nebenlinie der (deutschen) Wettiner wird ent-redet, die spezifische präbelgische Lokalgeschichte von Kelmis (ehedem Neutral-Moresnet) verdeckt. Wir finden hier eine zugleich wahre und unwahre Geschichte im Sinne Barthes' vor: einen Mythos des sublimiert Belgischen, einen Mythos des Zusammenhalts, komme da, was wolle; gleichzeitig aber auch eine Geschichte der (teilweisen) Subversion dieses nationalen Pathos vermittels seiner Profanisierung: auf einem Supermarkt-Parkplatz. Auch dieses Anarchische, sich selbst in Frage Stellende, ist Belgien.
Die Fortsetzung und weitere Aktualisierungen des Online-Forschungstagebuchs sowie das Literaturverzeichnis sind unter http://www.research-worldwide.de/belgium.html zu finden.
Weiterführende Links:
Zwischen Tagesschau und Königreich. Eine Lange Nacht über Belgien und seine deutschsprachige Gemeinschaft (Deutschlandfunk, 20.08.2011)
Die Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien (offizielle Website)
Die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens (Wikipedia-Artikel)
Autoren
- Name:
- Prof. Dr. Oliver Zöllner
- Forschungsgebiet:
- Digitale Ethik, Empirische Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Public Diplomacy
- Funktion:
- Professor
- Lehrgebiet:
- Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Digitale Ethik, Public Diplomacy, Nation Branding, Hörfunkjournalismus
- Studiengang:
- Medienwirtschaft (Bachelor, 7 Semester)
- Fakultät:
- Fakultät Electronic Media
- Raum:
- 216, Nobelstraße 10 (Hörsaalbau)
- Telefon:
- 0711 8923-2281
- Telefax:
- 0711 8923-2206
- E-Mail:
- zoellner@hdm-stuttgart.de
- Homepage:
- https://www.oliverzoellner.de
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