Hell's Angels auf der Schwelle der Forschung
Die Rockergruppe als Grenzerfahrung des New Journalism und der Ethnologie
Von Oliver Zöllner
Seit Jahren machen die "Hell's Angels" auch in Europa negative Schlagzeilen: Bandenkriege mit verfeindeten Motorradgangs, Vorwürfe der organisierten Kriminalität – Verstrickungen in Drogenhandel, Prostitution, ja selbst Morde werden ihnen zur Last gelegt. Die Hell's Angels (weltweit schreiben sie sich übrigens, der englischen Rechtschreibung mutig trotzend, meist ohne Apostroph) machen Angst. Als Medienphänomen faszinieren sie aber auch, wie eine ganze Reihe von jüngst erschienenen Autobiographien und Berichten von Szenekennern und Aussteigern belegt. Die kritischen Töne überwiegen. "Die aalglatte PR-Fassade" der Rocker "bekommt schon seit längerer Zeit Risse", schreibt etwa Ex-Angel "Bad Boy Uli" (Detrois 2012, S. 12). Die Hell's-Angels-Publizistik boomt und entwickelt sich fast schon zu einem eigenen Genre. Einer breiteren Öffentlichkeit unbekannt ist, dass die selbsternannten "Höllenengel" in den USA schon relativ früh ein Gegenstand der ethnologischen Forschung wurden – und das zunächst über den Umweg des Journalismus.
Der junge amerikanische Autor und Kolumnist Hunter S. Thompson (1937-2005) suchte Mitte der 1960er-Jahre nach Aufträgen. Er fand seine Story gewissermaßen vor der Haustür in Kalifornien. Die Hell's Angels, gegründet 1948, waren zu der Zeit bereits eine Art popkulturelles Phänomen: Zeitungen und Fernsehnachrichten bauschten die proletarischen Motorradgangs um 1965 herum zur nationalen Bedrohung auf – mit wahrhaft horrenden Geschichten. Der mediale Mechanismus der Skandalisierung funktionierte perfekt. Und da hatte Thompson seinen Auftrag.
Für die linksliberale Zeitschrift The Nation recherchierte er "vor Ort", knüpfte Kontakte mit einigen Mitgliedern der rauhen Truppe – und durfte eines Tages auf seinem Motorrad mitfahren. Als geduldeter Gast, wohlgemerkt, und zunächst ziemlich auf Distanz bedacht. Mehr als ein Jahr verbrachte der Journalist immer wieder auf naher Tuchfühlung mit den Hell's Angels, quer durch Kalifornien. Er brachte sich selbst als handelnde Figur mit ein und machte seine Anstrengungen, die Geschichte der Motorradgang einzufangen, selbst zur Geschichte.
Die Reportage in The Nation brachte Hunter S. Thompson erhebliche Aufmerksamkeit ein. Schnell war ein Buchvertrag unterschrieben. 1967 erschien Hell's Angels: A Strange and Terrible Saga – und wurde zum Bestseller. Vielleicht auch, weil auf dem Umschlag der noch etwas reißerischere Untertitel "The Strange and Terrible Saga of the Outlaw Motorcycle Gangs" prangte. Hollywood hatte zuvor in einer Reihe von Filmen den Motorradfahrer als Archetyp des Rebellen konstruiert: The Wild One (1953) mit Marlon Brando, The Wild Angels (1966) mit Peter Fonda oder Hells Angels on Wheels (1967) mit Jack Nicholson begründeten das Genre des 'Outlaw Biker'-Films. Längst ein Klassiker war zu diesem Zeitpunkt der Roman On the Road (1959) von Jack Kerouac, der das rastlose Unterwegssein romantisiert und geradezu zum Gipfel der Hipness stilisiert hatte. Da traf Thompsons Titel den Nerv der Zeit.
On the Road – In the Field
In seinem Buch praktizierte Thompson nicht nur das, was sein Kollege Tom Wolfe (*1931) wenige Jahre später mit einer Anthologie als "The New Journalism" kanonisieren würde: eine Form des Journalismus, die mit Stilmitteln der Literatur, mit längeren Formaten und vor allem einer dezidiert individuellen Perspektive experimentiert. Das Credo: Dabei sein! Die Abgase aus den Auspuffrohren riechen! Den Straßenstaub schmecken! Immersion!
Was Thompson ablieferte, liest sich denn auch wie ein spannender ethnographischer Feldbericht. Der Autor war mittendrin im Geschehen: on the road (Posen! Getöse! Machogehabe!); beim großen Angels-Treff am Bass Lake (noch mehr Posen! noch mehr Lärm! Bier!); bei der legendären gemeinsamen Party der Happening-Hippietruppe Merry Pranksters und der Hell's Angels (Drogen! Streit! Ausschweifungen! Allen Ginsberg! Fiasko!).
Thompson beobachtete scharf Sitten, Gebräuche und Rituale der oft seltsam und widersprüchlich wirkenden Motorradfahrer und führte hierüber Tagebuch – meist in Form von Cassetten-Aufzeichnungen. Eines dieser Tapes lieh er Tom Wolfe, der aus ihm das zentrale Kapitel "The Hell's Angels" seines frühen Meisterwerks The Electric Kool-Aid Acid Test (1968) schuf. Es ist faszinierend zu lesen, wie ein und das selbe Ereignis – die besagte Party der Bohème-Hippies mit den Proll-Angels als Gästen – auf Basis des selben Materials stilistisch so unterschiedlich wiedergegeben wurde, dabei in der inhaltlichen Einordnung sich so ähnlich präsentierte. Irgendwie war es wild hergegangen in La Honda, beide Seiten hatten sich mit einer Mischung aus Hochachtung und Abscheu beäugt und die Stimmung war manches Mal nahe dabei zu kippen, aber am Ende war die Party: viel Lärm um nichts – "thraggggggggh" und "thraaaaaaaggggghhh", wie Wolfe (1968, S. 177) den Sound einer einfahrenden Motorradformation so schön lautmalerisch verarbeitet hat. Doch trotz aller Martialität im Auftritt der einen und der ostentativen Absage an überkommene Normen der anderen: Auf ihre je eigene Art und Weise waren die Hippies und die Angels: irgendwie bürgerlich, ja seltsam spießig gar. Bitte nicht den Joint beschmutzen! Darüber stritt man sich.
Risse in der "Great Society"
Wolfe und Thompson machten sich Gedanken über die Hintergründe der Hell's Angels – woher sie kamen, wo ihre Faszinationskraft lag, warum sie gerade in den 1960er-Jahren zum Popphänomen wurden und weshalb sie das Selbstbild der amerikanischen Gesellschaft gerade zu dieser Zeit so bis ins Mark trafen. Nicht nur die Hippies machten seinerzeit Furore. Eine ganze Reihe neuer Subkulturen entstand. Es war eine Zeit des beginnenden Umbruchs. Die "Great Society" zeigte Risse. Aber das merkten noch nicht alle.
Thompson lieferte ein (hier nur grob skizziertes) Erklärungsmodell des Hell's-Angels-Phänomens, das bis heute unter soziologischen und ethnologischen Gesichtspunkten Geltung beanspruchen kann. Er sah die Motorradgang als Folgeentwicklung der Großen Depression der 1930er-Jahre, in dessen Zuge viele verarmte Farmer und Arbeiter des amerikanischen Mittelwestens ihre Heimat verlassen hatten, um im scheinbar "goldenen Kalifornien" ihr neues Glück zu finden. Viele dieser eingewanderten "Arkies" und "Okies" (etwas abschätzige Begriffe für Menschen aus Arkansas und Oklahoma, vulgo "Hinterwäldler") bildeten die neue kalifornische Unterschicht oder untere Mittelschicht; ihre Kinder erlebten oftmals typische Migrantenschicksale. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte die Westküste eine erneute Zuwanderungswelle, diesmal von ehemaligen GIs, die eine großzügige Abfindung der Regierung nutzen konnten.
Angst, Schrecken und Panik in den Medien
Aus diesen gesellschaftlichen Schichten mit Entwurzelungserfahrung, so Thompson, rekrutierten sich die Mitglieder der Hell's Angels und anderer Motorradgangs. Sie fühlten sich außerhalb der Gesellschaft, wollten anders sein – und doch letztlich nur den amerikanischen Traum leben (ein Thema, das übrigens auch für Thompsons weiteres publizistisches Werk bestimmend werden sollte). Den Traum von Freiheit und Ungebundenheit, den sie aber ironischerweise mit Ortsgruppen-Vorsitzenden, Schatzmeistern und anderen Hierarchiepositionen organisierten und teils mit Gewalt durchsetzten. Eine eher dystopische Form der experimentellen Vergemeinschaftung. Fürwahr ein Bürgerschrecknis. "Far from being freaks, the Hell's Angels are a logical product of the culture that now claims to be shocked at their existence. (...) In a nation of frightened dullards there is a sorry shortage of outlaws, and those few who make the grade are always welcome (...)" (Thompson 1967, S. 263). Und Angst schürt bekanntlich oft Gewalt: Beim ziemlich lauten, aber harmlosen Biker-Treffen am Bass Lake ging sie von aufgebrachten hysterischen Normalbürgern aus, die Thompson zu verprügeln drohten, als er in der nahe gelegenen Kleinstadt für die Angels Bier kaufen wollte. Angst macht Angst macht Gewalt. Die Gesellschaft, nicht zuletzt in Form der Mediengesellschaft, sehnt sich nach ihren Schrecken und Panik verbreitenden Außenseitern. Auch heute.
"Hell's Angels: A Strange and Terrible Saga", Thompsons Non-fiction-Novel oder Großreportage in Buchform, geriet zu einem bestechenden Stück Journalismus. Es bürgerte sich in den USA der Gattungsbegriff "New Journalism" ein – für Thompsons Stil später der Begriff "Gonzo Journalism". Mit dem eingesetzten Recherchemittel der teilnehmenden Beobachtung lieferte der Autor zugleich (wenn auch als solches nicht intendiert) ein Stück empirisch fundierter Ethnologie ab. Literarischer Journalismus kann also durchaus die Grundlage für qualitative Sozialforschung sein. Thompsons Ansatz des Feldzugangs, seine Interviewtechnik und auch seine ethischen Reflexionen – wie nah ran darf man als Journalist gehen? wann läuft man Gefahr, sich mit seinen Informanten zu verbrüdern? – haben längst Eingang in die sozialwissenschaftliche Methodenliteratur gefunden (vgl. Fontana/Frey 2003, S. 76ff.). Das Buch ist bis heute darüber hinaus ein Dokument seiner Zeit.
Die Hell's Angels als ritueller Schwellenzustand
Der britische Ethnologe Victor W. Turner (1920-1983) griff Thompsons Werk folgerichtig auch auf, als er 1969 seinen – inzwischen klassischen – Theorieentwurf The Ritual Process: Structure and Anti-Structure vorlegte. "Struktur" steht nach Turner für hierarchisch differenzierte, statusorientierte Vergesellschaftungsformen, deren Aushandlung sich in Übergangsritualen vollziehe. Turner machte seine ethnologische Feldarbeit bei präindustriellen Gesellschaften im südlichen Afrika. Aber es ist letztlich kein Zufall, dass er seine Überlegungen auch gut auf Kalifornien übertragen konnte, dieses Stück Land ohne Vergangenheit, ohne feste Struktur: eine Schwelle zum Neuen, auf der Outlaw-Motorradclubs so gedeihen konnten.
Nach Turner sind die Hell's Angels zu verstehen als eine "replication of the structure of secular associational organization, rather than status reversal. (...) These groups are playing the game of structure rather than engaging in the socio economic structure in real earnest. Their structure is 'expressive' in the main, though it has instrumental aspects" (Turner 1969, S. 194). Mit anderen Worten: Im Sinne Turners befinden sich Gruppierungen wie die Hell's Angels in einem rituellen Schwellenzustand zwischen Vergesellschaftungsformen der Vergangenheit und der Zukunft – im Limbo zwischen Rebellentum und Bürgerlichkeit, "betwixt and between" (Turner 1969, S. 95). Dies sei typisch für eine von Ungewissheit und Wandel geprägte Zeit. Im Kern waren die Hell's Angels der 1960er-Jahre, folgt man Turner, ein ziemlich rückwärtsgewandtes Ritual, das vor allem von der Sehnsucht nach Anerkennung und Ordnung geprägt war. Es hat zwar immerhin eine Art von Integration von ansonsten randständigen Personen in die Gesamtgesellschaft ermöglicht, allerdings oft über den Weg einer kriminellen Adaption gesellschaftlich akzeptierter Leitbilder und Normen wie etwa Wohlstand und Respektabilität.
On the Edge: Grenzerfahrungen
Sind Rockergruppen also nur ein Spiel mit gesellschaftlichen Strukturen und Positionen? Sicher nicht – vor allem wenn man auf die Bandenstruktur der Hell's Angels oder Bandidos heute schaut. Diese hat nichts mit romantischen Vorstellungen von "Outlaws" auf der Suche nach einem alternativen Lebensstil zu tun. Was Hunter S. Thompson übrigens am Ende seiner Recherchen bei den Hell's Angels am eigenen Leib erfahren musste. Weil er Einspruch erhob, als ein Angel seine eigene Freundin schlagen wollte, prügelten die Biker Thompson in großer Solidarität erheblich krankenhausreif. Das "Stomping": ebenfalls ein Ritual der Höllenengel.
Hunter S. Thompson wendete sich in der Folge anderen Grenzerfahrungen zu. Als selbst ernannter Held des "Gonzo Journalism" (einer One-Man-Show, die es mit der Akkuratesse von Fakten später nicht mehr so genau nahm) und als Politico-Bürgerschreck mit einer Neigung zum Exzess (woher nur nahm er die Inspiration?) wurde er weltberühmt – aber das ist eine andere Geschichte. Heute ist "Hell's Angels" längst kanonisiert als "a defining parable about the American Dream of paradise lost in the quest for unlimited freedom" (McEneany 2016, S. 55). Sein Kollege Tom Wolfe wurde einer der einflussreichsten Journalisten und Romanciers der USA, der bis heute gnadenlos und spöttisch die Statusobsessionen seiner Landsleute analysiert. Er ist mit vielen seiner Essays überdies zu einer kulturellen Ikone des Konservatismus geworden. Der New Journalism hat längst neue Protagonisten gefunden und wird heute meist mit dem Etikett "Literary Journalism" oder gar "New New Journalism" verkauft – in den USA ist er recht gut etabliert, in Deutschland fristet er immer noch ein Nischendasein. Victor W. Turner ist längst ein Klassiker der Ritualforschung und wird stetig wiederentdeckt, auch im Kontext der Medienethnographie.
Und die Hell's Angels, Bandidos & Co.? Sie verbreiten weiterhin Angst, Schrecken und Panik – und nicht wenige von ihnen haben in der Tat vor allem eine Schwelle überschritten: die zum Gefängnis.
Oliver Zöllner
• Primärliteratur:
Detrois, Ulrich: Wir sehen uns in der Hölle. Noch mehr wahre Geschichten von einem deutschen Hells Angel. Berlin 2012.
Thompson, Hunter S.: Hell's Angels: A Strange and Terrible Saga. New York 1967.
Turner, Victor W.: The Ritual Process: Structure and Anti-Structure. Chicago 1969.
Wolfe, Tom: The Electric Kool-Aid Acid Test. New York 1968.
• Weiterführende Literatur (Auswahl):
Bader, Jochen: Rockerkriminalität: Outlaw Motorcycle Clubs. Überlegungen zum Thema Hells Angels, Bandidos und Konsorten und zugleich eine kleine Milieukunde. In: Kriminalistik, Band 65 (2011), Nr. 4, S. 227-234.
Fontana, Andrea/Frey, James H.: The Interview: From Structured Questions to Negotiated Text. In: Norman K. Denzin/Yvonna S. Lincoln (eds.): Collecting and Interpreting Qualitative Materials. 2nd ed. Thousand Oaks, London, New Delhi 2003, S. 61-106.
McEneany, Kevin T.: Hunter S. Thompson: Fear, Loathing, and the Birth of Gonzo. Lanham, Boulder, New York, London 2016.
McKeen, William: Tom Wolfe. New York 1995.
Mosser, Jason: The Participatory Journalism of Michael Herr, Norman Mailer, Hunter S. Thompson, and Joan Didion: Creating New Reporting Styles. Lewiston 2012.
Schubert, Stefan: Hells Angels. Wie die gefürchteten Rocker Deutschlands Unterwelt eroberten. München 2012.
Weingarten, Marc: The Gang That Wouldn't Write Straight: Wolfe, Thompson, Didion and the New Journalism Revolution. New York 2006.
Wenner, Jann S./Seymour, Corey: Gonzo. The Life of Hunter S. Thompson: An Oral Biography. New York 2007.
Wolfe, Tom: The New Journalism: With an Anthology Edited by Tom Wolfe and E. W. Johnson. New York 1973.
Autoren
- Name:
- Prof. Dr. Oliver Zöllner
- Forschungsgebiet:
- Digitale Ethik, Empirische Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Public Diplomacy
- Funktion:
- Professor
- Lehrgebiet:
- Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Digitale Ethik, Public Diplomacy, Nation Branding, Hörfunkjournalismus
- Studiengang:
- Medienwirtschaft (Bachelor, 7 Semester)
- Fakultät:
- Fakultät Electronic Media
- Raum:
- 216, Nobelstraße 10 (Hörsaalbau)
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- https://www.oliverzoellner.de
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