Muße, Langeweile und die Nutzung digitaler Medien im Alltag
Unser Umgang mit erfüllter Zeit und Leerlauf
Wie gehen wir in der Digitalmoderne mit dem Überschuss an Zeit um? Haben wir Muße? Haben wir Langeweile? Wie bewerten und was machen wir mit diesen zeitbasierten Phänomenen? Inwieweit beeinflussen sie unsere Nutzung von digitalen Geräten und Plattformen? Zu diesen Fragestellungen haben Studierende der Masterstudiengänge Unternehmenskommunikation und Medienmanagement in einem Kurs unter der Leitung von Prof. Dr. Oliver Zöllner zwei empirische Forschungsprojekte durchgeführt. Sie sind nun unter dem Titel "Zeit für sich selbst. Muße, Langeweile und die Nutzung digitaler Medien im Alltag" in einem Open-Access-E-Book erschienen.
Es ist schon paradox: Wir haben es in der Hochmoderne mit einem permanenten Zeitgewinn zu tun, der das Resultat von Zeitersparnissen ist, ermöglicht etwa durch Maschinisierung, Automationsprozesse und Digitalisierung. Hartmut Rosa (2005) weist aber ebenso darauf hin, dass dieser Zeitgewinn nur ein scheinbarer ist, denn meist verwenden wir die gewissermaßen freigewordenen Zeitkontingente für neue, oft technisch bedingte Tätigkeiten. Automobile etwa ermöglichen im Prinzip eine weitaus schnellere Fortbewegung von A nach B als zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Das Halten eines Kraftfahrzeugs erfordert allerdings auch wieder relativ Zeit für die Auswahl von Versicherungspolicen, regelmäßige technische Überprüfungen und Reparaturen, Wagenpflege, Treibstoffbefüllung usw. Um sich ein Auto, den zugehörigen Führerschein und alle notwendigen Betriebsmittel und begleitenden Dienstleistungen leisten zu können, muss man relativ viel Geld ausgeben und dieses erst erarbeiten. Und in diesem Zuge sucht man wie so oft verzweifelt einen Parkplatz, eine Tankstelle oder steht auf dem Weg zur Arbeit oft mit vielen anderen Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmern im Stau und verliert: Zeit. Man könnte an ein Hamsterrad denken.
Aber selbst wenn er nicht im Stau steht (oder auf andere Art und Weise mit einem technischen Gerät Zeit verliert, weil es gerade nicht funktioniert), nutzt der Mensch in der technisierten Hochmoderne die durch Maschinen, Automaten oder sonstige Hilfsmittel gewonnene Zeit typischerweise nicht für das Nachdenken, die Entspannung, die Reflexion seiner Existenz oder gar für Leerlauf oder das Nichtstun. Die Muße, die Zeit lässt für einen selbst, hat seit der Industrialisierung mit ihrem Maschinentakt und der stetigen Synchronisierung von Zeitstrukturen einen schweren Stand. Wir haben uns zwar Apparate geschaffen, um Arbeit zu erleichtern und Zeit zu sparen, leben aber dennoch gefühlt in ständiger Zeitknappheit. Mit dem errungenen Zeitgewinn durch Innovation und Fortschritt steigert sich vielmals der Eindruck, weniger Zeit zu haben (Rosa 2005: 71-88). Objektiv eingesparte Zeit setzt meist ein erneutes Füllen des subjektiven Zeitkontinuums in Gang – in der digitalen Gegenwart etwa mit dem Ausfüllen von Profilen in sozialen Online-Netzwerken und dem Austausch von elektronischen Textmitteilungen.
Sind wir umso produktiver, je mehr wir posten?
Auch in solchen digitalen Umgebungen tut man etwas für sich, ließe sich formulieren, aber vor allem belegen unsere kreativen Selbstdokumentationen der eigenen Existenz, dass man nicht nichts tut. Fraglich ist, ob die von Arbeit befreite Zeit, die freie Zeit, solchermaßen auch Freizeit ist. Gerade die Arbeit an unseren Profilen ist unbezahlte Arbeit im System des Datenkapitalismus, worauf Shoshana Zuboff (2019) prominent hinweist. Je mehr wir posten, desto produktiver sind wir. Allerdings kommt diese Produktivität kaum uns selbst zugute, sondern den Tech-Konzernen, die unsere Daten (und damit uns) bewirtschaften.
Stillstand oder Müßiggang, quasi das unproduktive Leben, fühlt sich wie eine Versündigung an. Müßiggang ist aller Laster Anfang, sagt der Volksmund. Er verweist damit auf den schlechten Ruf der Muße, der immer der schale Beigeschmack der Langeweile, des Überdrusses und der sündigen Verschwendung anhaftet. Niemand möchte fadisieren. Wir haben verinnerlicht, dass es falsch zu sein hat zu faulenzen, müßig zu gehen oder (neudeutsch formuliert) zu idlen. Gerade im pietistisch geprägten Schwaben sind das schreckliche Vorstellungen! Dabei verweist das griechische Wort σχολή (scholé) gerade darauf, was die Muße ermöglichen soll: das Lernen, die Freiheit (die weit mehr ist als die moderne Konzeption der bloßen Freizeit und auch über das philosophische Ideal der Selbstbestimmung hinausweist) und nicht zuletzt die zutiefst menschliche Würde, die sich in der Muße ausdrückt (O'Connor 2018: 5-20). Aus dem Wort scholé hat sich deutlich das deutsche Wort Schule abgeleitet. Wir verbinden heute, im Zeitalter des ökonomistischen Denkens, mit Schule eher die Aspekte Fleiß, Aktivität und Leistung, also das Gegenteil von Stillstand, Nachdenklichkeit und Zeit für sich selbst. Muße klingt im dicht getakteten digitalen Zeitalter seltsam fremd und unpassend, Müßiggang fungiert beinahe als Schimpfwort. Wir müssen immer etwas zu tun haben, eine lange Weile darf nicht aufkommen. Wir spüren: Langeweile gilt es zu bekämpfen.
Haben wir nicht die Zeit, das zu tun, was wir tun wollen – oder haben wir nicht den Willen, das zu tun, wozu wir Zeit haben?
Wir haben daher technische Hilfsmittel entwickelt, die uns im Kampf gegen die Langeweile unterstützen. Der Fernseher und seine aktuellere mediale Ausformung, der Streamingdienst, sorgen dafür, dass uns nie langweilig ist. Algorithmen schlagen uns Filme und Serien vor, die uns auch gefallen könnten. Oft gefallen sie uns sogar wirklich. Wenn einem fad ist, ist Netflix die Rettung, so scheint es. Der Philosoph Nolen Gertz (2017) hat in einem auf YouTube dokumentierten Vortrag just die passende Frage gestellt, die sich aus diesem paradoxen System von tatsächlich verfügbarer Zeit und zugleich gefühlter Zeitknappheit ergibt: Haben wir nicht die Zeit, das zu tun, was wir tun wollen – oder haben wir nicht den Willen, das zu tun, wozu wir Zeit haben?
Gertz macht deutlich, dass in diesem Paradoxon ein philosophischer Analyseansatz adressiert wird, den wir Nihilismus nennen. Zum Nihilismus mit seinem Fokus auf das Nichts (nihil) gehört unter anderem auch die Leugnung: unser Unwillen, die uns umgebenden und bestimmenden Sachverhalte zu reflektieren und unsere Welt selbständig, also frei zu gestalten (Gertz 2018: 1-11). Bequemer ist es, dies anderen Instanzen zu überlassen: etwa Vorgesetzten, angeblich nicht veränderbaren gesellschaftlichen Verhältnissen, YouTube oder dem Netflix-Algorithmus. Wir haben keine Zeit, weil wir keine Zeit haben wollen. Wir haben keine Zeit, weil wir um jeden Preis Langeweile vermeiden wollen. Wir wollen um jeden Preis Langeweile vermeiden, weil uns lange Weile oder freie Zeit dazu verleiten könnte, über uns und unser Leben oder andere wichtige Dinge nachzudenken. Wir haben Angst vor der Langeweile, weil wir Angst vor der Muße haben, weil wir Angst davor haben, frei sein zu können, weil uns diese Freiheit wiederum verpflichten würde, verantwortliche Menschen zu sein. Instagram scheint attraktiver – auch wenn es richtige Arbeit ist, die wir da verrichten, wie jeder Mensch weiß, der einen Social-Media-Account liebevoll pflegt. Aber wir machen das gerne, weil diese Tätigkeit uns auf bestimmte Weise belohnt. Und weil uns diese an sich fremdbestimmte Arbeit das Gefühl vermittelt, freie Zeit zu sein. Wir leugnen damit den Kern unserer Existenz.
Forschungsprojekte im Wintersemester 2018/19
Mit diesen einführenden Gedanken und Hypothesen im Handgepäck haben sich im Wintersemester 2018/19 neun Studierende der Masterstudiengänge Unternehmenskommunikation und Medienmanagement an der Hochschule der Medien Stuttgart im Kurs "Digitality and Society" zusammengefunden, um der Frage nach Langeweile und Muße in der sich rapide weiter digitalisierenden Gesellschaft empirisch nachzuspüren. Jasmin Ade, Myriam Bummer, Christa Knoll, Melanie Liebert, Nicolas Polanco, Natalie Schweizer, Anne Sillmann, Michaela Teicht und Carolin Unger haben sich in den 15 Wochen des Semesters nicht nur in die Materie eingelesen, sondern richtig "eingegraben": nicht nur in die Literatur, sondern auch in die empirischen Methoden und in die faszinierenden Prozesse des permanenten Wandels um sie herum. Die Kommiliton*innen haben zwei Forschungsprojekte von Grund auf konzipiert, umgesetzt und verschriftlicht. Die redaktionelle und grafische Bearbeitung der Manuskripte bis hin zum fertigen E-Book erfolgte anschließend im Rahmen eines Tutoriums. Alles ist also von HdM-Studierenden "hausgemacht" – und insgesamt eine beachtenswerte Leistung, die nunmehr öffentlich dokumentiert wird.
Hier zitierte Quellen:
Gertz, Nolen (2017): Nihilism - There's an App for That! Vortrag, TEDxFrankfurt [Video]. Onlinequelle (YouTube, 11.01.), URL: https://www.youtube.com/watch?v=GpKrM8GQwOg.
Gertz, Nolen (2018): Nihilism and Technology. London, New York: Rowman & Littlefield.
O'Connor, Brian (2018): Idleness: A Philosophical Essay. Princeton, Oxford: Princeton University Press.
Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Zuboff, Shoshana (2019): The Age of Surveillance Capitalism: The Fight for the Future at the New Frontier of Power. London: Profile Books
Das E-Book:
Zöllner, Oliver (Hrsg.) (2020): Zeit für sich selbst. Muße, Langeweile und die Nutzung digitaler Medien im Alltag. Zwei Forschungsberichte (von Jasmin Ade, Myriam Bummer, Christa Knoll, Melanie Liebert, Nicolas Polanco, Natalie Schweizer, Anne Sillmann, Michaela Teicht und Carolin Unger). Stuttgart: Hochschule der Medien, 170 S. Download unter https://hdms.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/6551/file/Digitalitaet_Musse_Langeweile_2020.pdf.
Radiobeitrag zum E-Book:
Kastner, Greta (23.06.2020): Selbstdarstellung auf Social Media. Feature zum E-Book "Zeit für sich selbst". HORADS 88,6, Campusmagazin HdM. Nachhören unter https://soundcloud.com/horads-88-6/selbstdarstellung-socialmedia.
Autoren: Zöllner, Oliver
Hrsg.: Oliver Zöllner
ISBN: URI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:900-opus4-65518
Seiten: 170
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: Hochschule der Medien
Ort: Stuttgart
Preis: kostenlos
Autoren
- Name:
- Prof. Dr. Oliver Zöllner
- Forschungsgebiet:
- Digitale Ethik, Empirische Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Public Diplomacy
- Funktion:
- Professor
- Lehrgebiet:
- Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Digitale Ethik, Public Diplomacy, Nation Branding, Hörfunkjournalismus
- Studiengang:
- Medienwirtschaft (Bachelor, 7 Semester)
- Fakultät:
- Fakultät Electronic Media
- Raum:
- 216, Nobelstraße 10 (Hörsaalbau)
- Telefon:
- 0711 8923-2281
- Telefax:
- 0711 8923-2206
- E-Mail:
- zoellner@hdm-stuttgart.de
- Homepage:
- https://www.oliverzoellner.de
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