Diese Website verwendet nur technisch notwendige Cookies. In der Datenschutzerklärung können Sie mehr dazu erfahren.

Zum Hauptinhalt springen
Logo, Startseite der Hochschule der Medien

Ausschreibung Master-Thema

Prof. Dr. Bernd Schmid-Ruhe

 

Dispositive der Identität: Darstellungen, Rollenangebote und Identifikationsmöglichkeiten in der japanischen visuellen Kultur des 21. Jahrhunderts.

 

Die (junge) Kultur des 21. Jahrhunderts ist geprägt von einer zunehmenden Ausdifferenzierung visueller Medien und ihrer Darstellungsformen. Mit dem Internet als Master-Medium für viele unterschiedliche inhaltliche Formate haben sich bestimmte Kunstformen weiter etabliert, aber es wurde auch eine Binnendifferenzierung innerhalb der Sparten betrieben, die neben Fankreisen auch Subkulturen gebildet haben; diese organisieren sich nicht nur in der Rezeption bestimmter Stoffe und durch den Austausch darüber, sondern verbinden damit auch bestimmte Lebensentwürfe und lebensanschauliche Haltungen, Meinungen und Praktiken sowie eine große Offenheit für diverse sexuelle Orientierungen. Eine wachsende Fankultur entgrenzt sich dabei z. B. in den popkulturell und vor allem visuell geprägten japanischen Bilderwelten der Mangas und Animes hinsichtlich ihres identitätsstiftenden Potentials, indem die Gruppen nicht mehr nur Rezeptionsgemeinschaften darstellen, sondern als „communities of practice“ und Solidargemeinschaften agieren. Die Analyse solch differenzierter Bilder- und Erzählwelten bedingen im Sinne des „pictorial turn“ andersartige Analysewerkzeuge und entziehen sich mitunter dem eher traditionellen hermeneutischen Instrumentarium. Sie machen eine lebensweltliche Wirkungsanalyse ebenso notwendig, wie eine diskursanalytische Herangehensweise, um die komplexen Wirkmechanismen der Diskurse in den visuellen Medien der japanischen Kultur – vor allem in der westlichen Rezeption – erklären zu können.

 

Wie viele andere Medien machen gerade Mangas und Animes Rollenangebote für ihre Rezipienten. Aufgrund ihrer Zielgruppe richten sie sich häufig an jene, die einen hohen Identifikationsbedarf haben und für Rollenvorbilder dankbar sind. Gerade Themen der Adoleszenz, v. a. im Bereich der individuellen Selbstverortung und Selbstfindung sind daher häufig Gegenstand dieser Kunstformen, die in ihren Medienverbünden nicht nur auf die primäre Rezeption zielen, sondern weitere Angebote wie Kleidung, Spiele, Sammelkarten, Plastik-Figuren, Realfilme, Musik etc. machen. Die sich daraus generierenden multimedialen Welten erlauben es so, den identifikatorischen Hintergrund eben nicht nur zu rezipieren, sondern auch selbst zu kommunizieren. So ist es in vielen Fällen nicht unüblich, dass Freunde und Fans bestimmter Serien und Reihen die Rezpetionsgrenzen überschreiten und selbst zu Produzent:innen werden, sei es z. B. im interpretatorischen Nachdichten oder kreativen Weiterführen in der sogenannten Fan-Fiction oder im rollenspielerischen Nachempfinden mit oder ohne Kostümen („Cosplay“). Diese Aneignungsformen erlauben nicht nur einen kreativen und spielerischen Umgang mit den Vorlagen, sondern haben ein hohes identifikatorisches Potential, da die Rollenangebote direkt übernommen, aber auch permutiert werden können.

 

Gegenstand einer Beschäftigung mit diesen Themen können somit alle Fragen der Fan-Kultur sein, die das identifikatorische Potential der japanischen visuellen Kultur aufgreifen und damit neue Interpretationsräume schaffen, v. a. immer dann, wenn sie im Spannungsfeld zwischen Rezeption und Produktion stehen. Gerade die Ausdifferenzierung in den einzelnen Fan-Kulturen und deren teilweise enzyklopädische Aufbereitung des Ausgangsmaterials eignet sich hierfür, aber auch die Diskussion der Narrative und deren Wirkungen innerhalb der Fan-Gruppen. Einen Sonderfall stellen die Rollenangebote hinsichtlich geschlechtlicher Identität dar, die im Folgenden dargestellt werden sollen. Geplante Masterarbeiten dürfen, müssen aber nicht, diesen Themenbereich besonders thematisieren.

 

Innerhalb der Manga-Kultur sind bestimmte Dispositive angelegt, die sowohl eine Entgrenzung erotischer Topoi nahelegen als auch es erlauben, die epistemischen Grundlagen dieser Entgrenzung zu untersuchen. In diesen zu untersuchenden Diskursen über Sexualität in der visuellen japanischen Kultur entbergen sich also Machtkonstellationen, die über Sag- und Darstellbares entscheiden und mit ihren Identitätsangeboten nicht nur Spiegel sexueller Strategien sind, sondern auch Rollenoptionen anbieten. Die Dispositive der Sexualität, wie sie z. B. im japanischen Anime dargestellt werden, überschneiden sich nicht notwendigerweise mit den gesellschaftlich etablierten Dispositiven und fallen damit häufig – in einer weiten foucaultschen Interpretation – in den Bereich der ausgegrenzten, „perversen“ Sexualitäten. Während in der langen Tradition der japanischen visuellen Kultur viele der Sujets eine hohe provokative Wirkung hatten und im Rahmen eines Exotismus bzw. Orientialismus in Europa als Phänomene der Fremdheit rezipiert wurden, werden heute durch lokale Fanstrukturen die Angebote sexueller Orientierungen (auch im Sinne von Gender) auch in europäischen Fankulturen weitergetragen. Diese Form der kulturellen Aneignung überträgt damit v. a. Rollenangebote und sexuelle Identitäten aus den fernöstlichen Kontexten in eine europäische Erfahrungswelt und erzeugt somit Brüche und Verwerfungen, die sich in unterschiedlichen Ausprägungen zeigen (z. B. Uniform-Fetische, extrem submissives Verhalten, brechen gesellschaftlicher Konventionen und Hierarchien).

 

Neben den potentiell expliziten Darstellungen von Sexualität in Mangas, wirken aber auch v.a. die non-pornographischen Darstellungen von sexueller Orientierungen nach bestimmten Mustern. Diese lassen nicht nur bestimmte Rückschlüsse auf Wirkungsweisen dispositiver Diskursrelationen zu, sondern wirken mit ihren Rollenangeboten auch in die Rezipientenkreise hinein. Gerade die Darstellung eines geschlechterübergreifenden oder geschlechterneutralen (z. B. in der Serien My Genderless Boyfriend von Tamekou) Verhaltens wirkt auch als identitäres Angebot und wird z. B. in Cosplays kopiert bzw. imitiert. Gerade im Genre des Shojo verschwimmen immer wieder die Grenzen sexueller und non-sexueller Zuneigung, effeminierte Männer oder Personen ohne unmittelbare sexuelle Zuschreibung gehen intime, aber nicht notwendigerweise sexuelle Beziehungen ein. In den zahlreichen Internet-Communities werden diese Verhaltensweise schließlich nun lebensweltlich kontextualisiert, auch um als Orientierungshilfen dem eigenen Handeln anverwandelt zu werden. Die lebhafte und umfangreiche Diskussion in Fan-Foren jeglicher Art dokumentiert hier die Transgression medialer Rezeption in die lebensweltliche Adaption, wobei gerade Mode(n) hier eine große Rolle spielen und wiederum visueller Ausdruck einer gemeinsamen Rezeptionserfahrung werden. Im Spannungsfeld von globalen Rezeptionsgewohnheiten, unverhohlenem Exotismus, Fremdheitserfahrungen und Identitätsfindung entsteht hier ein Fandiskurs, der die besonderen Orientierungsangebote der visuellen japanischen Kultur aufgreift und daraus eine eigene Identitätsvielfalt generiert.

 

Im Projekt „Knowledge Graphs in Visual Media“ wurden bereits umfangreiche Metadaten zu den entsprechenden Medien generiert. Es ist vorgesehen, dass diese für das Master-Projekt genutzt und ausgewertet werden, um neben der analytischen inhaltlichen Arbeit auch auf empirische Daten zurückgreifen zu können. Hierfür ist eine enge Kooperation mit dem Projekt von Hr. Prof. Pfeffer geplant.

 

Eine Arbeit im Bereich der visuellen japanischen Kultur bietet viele mögliche Untersuchungsgegenstände an, z. B.:

 

  • Inwieweit werden Exotismus und Fremdheitserfahrung in Fan-Kulturen hinsichtlich der Rezeptionserfahrung kommuniziert und wie unterscheiden diese sich möglicherweise von anderen Kunstformen?
  • Welche Rollenangebote werden innerhalb bestimmter Genre der visuellen japanischen Medienkultur gemacht und welche davon werden in welchen spezifischen Formen, z. B. in europäischen Fangruppen rezipiert?
  • Welche Dispositive können isoliert werden, wenn es um die Darstellung von Sex und Gender geht und wie wirken diese möglicherweise aufeinander? Welche Gesetzmäßigkeiten existieren, wenn es um die Zuordnung bestimmter Sexualitäten zu bestimmten Geschlechtern geht?
  • Welche Meta-Reflexion existiert hinsichtlich der Konstruktion von Geschlecht innerhalb deutschsprachiger Fangruppen und wie reflektieren diese z. B. die soziale Konstruiertheit von Geschlecht?

 

Name und Kontaktdaten: Prof. Dr. Bernd Schmid-Ruhe (schmid-ruhe@hdm-stuttgart.de), Prof. Magnus Pfeffer (pfeffer@hdm-stuttgart.de)

Fachrichtung, Studiengänge: Informationswissenschaften

Notwendiges Vorwissen: Medien- und kulturwissenschaftliche Grundlagen, fundierte Kenntnisse im Bereich visueller japanischer Medien, Grundlagen Data Science

 

Literatur (Auswahl):

Monographien:

  • Berndt, Jaqueline. Manga: Medium, Kunst und Material. Leipziger Universitätsverlag, 2015.
  • Clements, Jonathan. Anime: A history. Bloomsbury Publishing, 2017.
  • Condry, Ian. "The soul of anime." The Soul of Anime. Duke University Press, 2013.
  • Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978.
  • Schodt, Frederik L. Dreamland Japan: Writings on modern manga. Stone Bridge Press, Inc., 2013.
  • Kinsella, Sharon. Adult manga: Culture and power in contemporary Japanese society. Routledge, 2015.
  • Vo, Thao-Cathleen. Cultural representation of sex and gender in manga. Diss. San Francisco State University, 2017

 

Aufsätze

  • T. Darlington, S. Cooper: “The Power of Truth. Gender and Sexuality in Manga.” In: R. Wilson-Woods: Manga: An Anthology of Global and Cultural Perspectives. 2010.
  • Hemmann, Kathryn. "Queering the Media Mix: The Female Gaze in Japanese Fancomics." Manga Cultures and the Female Gaze. Palgrave Macmillan, Cham, 2020. 77-101.
  • W. J. T. Mitchell: Picture Theory: Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago 1994.
  • Mizoguchi, Akiko. "Male-male romance by and for women in Japan: A history and the subgenres of "yaoi" fictions." US-Japan Women's Journal (2003): 49-75.
  • Ogi, Fusami. "Female subjectivity and shoujo (girls) manga (Japanese comics): shoujo in ladies' comics and young ladies' comics." Journal of popular culture 36.4 (2003): 780.
  • Saito, Kumiko. "Desire in subtext: Gender, fandom, and women's male-male homoerotic parodies in contemporary Japan." Mechademia 6.1 (2011): 171-191.