Aufsatz

Politische Landschaft (mit Burgruine)

Ein Bilddokument von Identitätsdiskursen in Ostbelgien

Die von der Sonne beschienene Frau (Zukunft!) vor einer düsteren Burgruine (Vergangenheit!) fängt die konfliktbeladene Identität der deutschsprachigen Belgier ein, so Oliver Zöllner in seiner dokumentarischen Analyse des PR-Fotos aus einer Selbstdarstellungsbroschüre der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens.
Die von der Sonne beschienene Frau (Zukunft!) vor einer düsteren Burgruine (Vergangenheit!) fängt die konfliktbeladene Identität der deutschsprachigen Belgier ein, so Oliver Zöllner in seiner dokumentarischen Analyse des PR-Fotos aus einer Selbstdarstellungsbroschüre der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens.

In einer Fallstudie stellt HdM-Professor Oliver Zöllner die "dokumen­tarische Methode" nach Bohnsack (2011) vor­ und wendet sie an einem exempla­rischen Bild­doku­ment an. Bei dem analy­sierten Bild einer jungen Frau vor einer Burgruine handelt es sich um ein inszeniertes Foto aus einer Selbst­darstellungs­broschüre der Deutsch­sprachigen Gemein­schaft Belgiens, das den "Habitus" dieser Bevöl­kerungs­gruppe einfängt. Zöllner rekon­struiert diesen Habitus in allen Details und zeichnet damit die wider­sprüchliche und kon­flikt­beladene Identi­tät der deutsch­sprachigen Belgier nach.

In seinem Buch­beitrag setzt Zöllner die "dokumen­tarische Methode" von Ralf Bohnsack ein, einen Ansatz der rekonstruk­tiven Sozial­for­schung, um ein in der Tat merk­würdiges PR-Bild zu analysieren. Der Autor geht von der Hypothese aus, dass sich die kollektive Identität – oder besser: die Identitäten (im Plural) – der deutsch­sprachigen Ostbelgier in einem Diskurs um Fremd- und Selbst­bilder ausdrückt. Diese greifen zum einen auf teils unklare Aushand­lungen von Vergangen­heit bzw. Zukunft zurück­ und zum anderen auf die vor allem inner­belgisch geführte Debatte um Zugehörigkeit bzw. Abgrenzung in einem borderland (in dem die Niederlande, Deutschland und Luxemburg in unmittel­barer Nähe liegen).

Beredtes Bild einer "politischen Landschaft" im Grenzraum

Um den Kunst­historiker Martin Warnke (1992) und ein beliebtes Sprach­klischee zu paraphrasieren, ist die analysierte Fotografie ein Beispiel für das Bild einer "politischen Landschaft". Die Dunkelheit der Vergangenheit, die durch die düstere Burgruine im Hinter­grund des Bildes verkörpert wird, steht in einem sprechenden Kontrast zu der strahlend hellen Gestalt der jungen Frau im Vordergrund, deren Physiognomie eine Zukunft für die deutschsprachige Minderheit symbolisiert. Die junge Frau ist unschwer als Repräsentanz der Zukunft der deutsch­sprachigen Ostbelgier zu identifizieren. Diese Zukunft wirkt optisch hoch­dynamisch. Es ist die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens, die hier strahlt. Die allegorische Figur blickt im Kader nach links, bildsprachlich gen Westen: also vom fast östlichsten Punkt Belgiens (es ist die Burg Reuland) nahe der deutschen Grenze in Richtung des belgischen Kernlandes. Doch diese Lesart ist keineswegs gesichert und eindeutig. Etwas in Ostbelgien ist schief, aus dem Lot geraten – so wie das Bild, das seltsam geschrägt in die Broschüre der Gebiets­körper­schaft montiert wurde. Es ist ein Bildnis der Ambiguität.

Keine Erlösung von den Ruinen der Vergangen­heit

Das Bild drückt eine Sehnsucht als Narrativ aus, die vielleicht auch Ausdruck einer Suche nach Erlösung und nach identi­täts­bezogener Eindeutigkeit ist. Doch diese Eindeutigkeit liefert das Bild letztlich nicht. Es drückt weder eine Erlösung von den Ruinen der Vergangenheit noch eine identitäre Eindeutigkeit aus. Die Ostbelgier bleiben 'dazwischen', betwixt and between. Sie existieren zwischen zwei Ländern und konnten sich in dieser Situation einrichten. Das mag ethnografisch gesehen ein Schwellenzustand sein, der sich auch auf die 'Belgitude' insgesamt beziehen kann, also Ausdruck von etwas Unfertigem und stets in Frage Gestelltem. Dies ist damit aber zivilisatorisch betrachtet durchaus ein avancierter Zustand der Suche – wenn man einen solcher­maßen unfertigen Zustand denn aushalten kann.

Die komplexen Erzählebenen des Bildes schaffen Raum für das emanzipatorische Prinzip der interkulturellen Toleranz und der Weltoffenheit; sie sind eine Art von "Exploration, die andere Möglichkeiten zutage fördert" (Jullien 2018, S. 37)  – eventuell gar solche, die dem "emanzipa­torischen Prinzip interkultureller Toleranz und kosmopolitischer Offenheit" verpflichtet sind, das den Wesenskern der 'Belgitude' ausmacht (Sepp 2010, S. 22). In jedem Fall drückt das untersuchte Bild aus, dass die Frage nach Vergangen­heit und Zukunft der Ostbelgier nunmehr zumindest ausgesprochen werden kann. Das Dunkle der Vergangenheit und nicht zuletzt deren Ungeord­netheit müssen nicht mehr notgedrungen im Mittelpunkt der Identitätsdiskurse der deutsch­sprachigen Belgier stehen. Gerade hierin liegt die Chance, das Konzept von 'Heimat' für die ostbelgische Region entspannt neu zu konstruieren (Penné 2017, S. 248).

 

Literatur (Auswahl):

Bohnsack, Ralf (2010): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 8. Aufl. Opladen, Farmington Hills: Budrich.

Bohnsack, Ralf (2011): Qualitative Bild- und Videointerpretation. Die dokumentarische Methode. 2. Aufl. Opladen, Farmington Hills: Budrich.

Jullien, François (2018): Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur. 4. Aufl. Berlin: Suhrkamp.

Penné, Lesley (2017): Land ohne Heimat? Heimatbegriff in der deutschsprachigen belgischen Gegenwarts­literatur. In: G. Iztueta, M. Saalbach, I. Talvera, C. Bescansa & J. Standke (Hrsg.): Raum - Gefühl - Heimat. Literarische Repräsentationen nach 1945. Marburg: LiteraturWissenschaft.de, S. 235-251.

Sepp, Arvi (2010): Grenzübergänge. Transkulturalität und belgische Identität in der aktuellen deutschsprachigen Literatur in Belgien. In: Aussiger Beiträge. Germanistische Schriftenreihe aus Forschung und Lehre, 4, S. 13-26.

Warnke, Martin (1992): Politische Landschaft. Zur Kunstgeschichte der Natur. München, Wien: Hanser.

 

 


Erschienen in:

Ostbelgische Querverbindungen. Literarische Repräsentationen einer Grenzregion
Auf den Seiten: 71-94
Autoren: Zöllner, Oliver
Hrsg.: Arvi Sepp und Lesley Penné
Erscheinungsjahr: 2023
Verlag: Waxmann
Ort: Münster, New York

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Verlagsbeschreibung


Autoren

Name:
Prof. Dr. Oliver Zöllner  Elektronische Visitenkarte
Forschungsgebiet:
Digitale Ethik, Empirische Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Public Diplomacy
Funktion:
Professor
Lehrgebiet:
Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Digitale Ethik, Public Diplomacy, Nation Branding, Hörfunkjournalismus
Studiengang:
Medienwirtschaft (Bachelor, 7 Semester)
Fakultät:
Fakultät Electronic Media
Raum:
216, Nobelstraße 10 (Hörsaalbau)
Telefon:
0711 8923-2281
Telefax:
0711 8923-2206
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