Vortrag

OK Computer?

Aushandlungen der digitalen Zukunft in einem Schlüsselwerk der Popmusik

Hier wird nachgedacht. Aristoteles (M.) vor der Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg. Die Jugend (li.), ach, sie wendet sich ab (Foto: Oliver Zöllner).
Hier wird nachgedacht. Aristoteles (M.) vor der Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg. Die Jugend (li.), ach, sie wendet sich ab (Foto: Oliver Zöllner).
OK Computer, ein Album der britischen Band Radiohead von 1997, gibt Rätsel auf (Folien-Screenshot: Oliver Zöllner).
OK Computer, ein Album der britischen Band Radiohead von 1997, gibt Rätsel auf (Folien-Screenshot: Oliver Zöllner).

Was war einmal die Zukunft? Wie blicken wir heute auf sie? Und wie mani­festiert(e) sie sich in der Populär­kultur? Mit diesen und weite­ren Frage­stellungen fand vom 23. bis 25. Juni 2022 die Tagung "Zukunfts­ent­würfe in der Popu­lär­kultur" an der Univer­sität Frei­burg statt. Aus­richter war das dortige Zentrum für Popu­läre Kul­tur und Musik zusammen mit dem Insti­tut für Kultur­anthropo­logie und Euro­päische Ethno­logie. HdM-Professor Oliver Zöllner hielt einen Vor­trag zum Album OK Computer der briti­schen Band Radio­head aus dem Jahr 1997, das vielen als ein Schlüssel­werk der rock­musika­lischen Ausein­ander­setzung mit der Digitali­sierung gilt. Zöllner analy­sierte das Werk mit Hilfe der dokumen­tarischen Methode aus der quali­tativen Sozial­for­schung − und fügte dem Werk­titel ein Frage­zeichen hin­zu.

Nach einer Darlegung der Ansätze der dokumen­tarischen Methode, die Ralf Bohnsack ab den 1980er-Jahren entwickelt hat, und einem Blick auf die Geschichte der Digitalisierung bis 1997, dem Jahr der Veröffentlichung von OK Computer, rekonstruierte Zöllner dieses Werk und seinen Ent­stehungs­prozess als Dokument eines bestimmten sozialen Habitus. Zöllner ordnete Radioheads Album in eine größere Reihe an pop­musika­lischen Vorläufern ein, die sich ab den späteren 1960er-Jahren mit Robotisierung, Kybernetik und Digitali­sierung befasst hatten. Interessant ist, dass Radiohead bestimmte Thematiken in ihrer meist dystopischen Formu­lierung fortge­schrieben hat, am augenfälligsten wohl das Album I Robot von The Alan Parsons Project aus dem Jahr 1977. Ebenso lässt sich eine Zitaten­linie zu den Alben Wish You Were Here (1975) und Animals (1977) von Pink Floyd nach­zeichnen: Von ihnen finden sich Bildzitate im Cover-Artwork von OK Computer, das dadurch seinen antikapita­listischen Gestus deutlich macht, so inhaltlich vage er auch letztlich bleibt.

Negativer Zukunftsentwurf der Digitali­sierung

Auch dies wird deutlich, wenn man sich mit der Radiohead-Produktion befasst: Ihr Titel legt beinahe eine falsche Fährte. Das Thema Digitali­sierung wird kaum manifest behandelt; der Sound ist zwar überwältigend in Sinne eines sonic overload, aber im Grunde klassisch rockis­tisch, von einigen "digital" klingenden Produktions­gimmicks abgesehen. Es geht auf der textuellen Ebene um persönlichen Verlust, Ängste, dräuende Gefahren, Überwachung und Kontrolle, aber Computer kommen dabei kaum vor. Eine Ausnahme bildet das Stück "Fitter Happier" genau in der Mitte der zwölf Titel des Albums. In ihm verliest eine Computer­stimme vor dem Hinter­grund­rauschen einer dissonanten Klangcollage ein extrem dysto­pisches Manifest der neoliberal gewendeten Ausbeutung des Menschen und seiner Produktiv­kräfte bis hin zur Vernichtung seines Selbst. Von dieser Ver­handlungs­position aus, so Zöllner, lassen sich die übrigen Titel und ihre Thematiken durchaus als negativer Zukunftsentwurf der Digitali­sierung lesen. Dieser wird aber kaum explizit, sondern in Form von Stimmungen und Stimmungs­bildern präsentiert und ausgehandelt − zu einer Zeit, wohlgemerkt, als die populäre Literatur eher euphorische Visionen der Digitalisierung verkaufte, Mobil­telefone gerade erst ihren Weg in die Jackentaschen der Menschen nahmen, kaum jemand eine E-Mail-Adresse hatte und ein "Internetanschluss" noch etwas besonderes war.

Die musikalischen, textuellen, produktionstechnischen und ikono­grafischen Elemente des Albums OK Computer sowie ihrer intertextuellen Verweise sind für eine weitere Analyse gemeinsam heran­zuziehen, gewisser­maßen in einer interdisziplinären Überlappung von Musik-, Literatur-, Sound- und Bild­forschung in Kombination mit den wissens­soziologischen Ursprüngen der dokumenta­rischen Methode. Die Gruppe Radiohead selbst hat 20 Jahre später einen Eigen­kommentar zum Verständnis ihres Zukunftsentwurfs aus dem Jahr 1997 abgegeben, indem sie der (heute fast schon üblichen) erweiterten Neu­edition von OK Computer den Untertitel OKNOTOK (vulgo: okay not okay) gegeben hat. Vage bleibende Unent­schiedenheit scheint der Habitus dieser Produktion zu sein, die vor allem "Ausschweifungen des Gefühls" bietet, also jene "orgies of feeling", die Aldous Huxley 1932 in seinem Zukunfts­roman Brave New World direkt von Friedrich Nietzsche (1887) entlehnt hat. Nihilismus per Leugnung, ick hör' dir trapsen, auch bei Radiohead. "Fitter, happier and more productive": keine guten Aussichten. OK Computer? Irgendwie nicht.

Vortrag auf Veranstaltung: Zukunftsentwürfe in der Populärkultur
Veranstaltungsort: Freiburg i.Br.
Datum: 23.06.2022 bis 25.06.2022

Weiterführende Links:
Tagungsprogramm
Radiohead: OK Computer (bei Discogs.com)


Autoren

Name:
Prof. Dr. Oliver Zöllner  Elektronische Visitenkarte
Forschungsgebiet:
Digitale Ethik, Empirische Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Public Diplomacy
Funktion:
Professor
Lehrgebiet:
Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Digitale Ethik, Public Diplomacy, Nation Branding, Hörfunkjournalismus
Studiengang:
Medienwirtschaft (Bachelor, 7 Semester)
Fakultät:
Fakultät Electronic Media
Raum:
216, Nobelstraße 10 (Hörsaalbau)
Telefon:
0711 8923-2281
Telefax:
0711 8923-2206
E-Mail:
zoellner@hdm-stuttgart.de
Homepage:
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