Was war einmal die Zukunft der Digitalisierung?
OK Computer? Aushandlungen der digitalen Zukunft in einem Schlüsselwerk der Popmusik
Wie blickte die Popmusik 1997 auf die Zukunft der Digitalisierung? Und wie blicken wir heute auf diesen Blick in die Zukunft zurück? Diesen Fragen geht HdM-Professor Oliver Zöllner in seinem gerade erschienenen Buchbeitrag "OK Computer?" mit den Methoden der rekonstruktiven Sozialforschung und der rekonstruktiven Ethik nach. Er analysiert hierfür das Album OK Computer der britischen Band Radiohead in seinen vielschichtigen musikalischen, bildlichen, textuellen und intertextuellen Bezügen. Am Ende gelangt Zöllner zu der Conclusio, dass das Werk letztlich ein "in der Rückschau hellsichtiges Dokument der wütenden Verzweiflung über die Dehumanisierung und Indienststellung des Menschen" ist.
Nach einer Darlegung der Ansätze der dokumentarischen Methode, die Ralf Bohnsack ab den 1980er-Jahren entwickelt hat, und einem Blick auf die Geschichte der Digitalisierung bis 1997, dem Jahr der Veröffentlichung von OK Computer, rekonstruiert Zöllner das Radiohead-Album und seinen Entstehungsprozess als Dokument eines bestimmten sozialen Habitus. Zöllner ordnet das Werk in eine größere Reihe an popmusikalischen Vorläufern ein, die sich ab den späteren 1960er-Jahren mit Robotisierung, Kybernetik und Digitalisierung befasst hatten. Interessant ist, dass Radiohead bestimmte Thematiken in ihrer meist dystopischen Formulierung fortgeschrieben hat, am augenfälligsten wohl das Album I Robot von The Alan Parsons Project aus dem Jahr 1977. Ebenso lässt sich eine Zitatenlinie zu den Alben Wish You Were Here (1975) und Animals (1977) von Pink Floyd nachzeichnen: Von ihnen finden sich Bildzitate im Cover-Artwork von OK Computer, das dadurch einen antikapitalistischen Gestus deutlich macht, so vage er inhaltlich letztlich auch bleibt.
Negativer Zukunftsentwurf der Digitalisierung
Auch dies wird deutlich, wenn man sich mit der Radiohead-Produktion befasst: Ihr Titel legt beinahe eine falsche Fährte. Das Thema Digitalisierung wird kaum manifest behandelt; der Sound ist zwar überwältigend in Sinne eines sonic overload, aber im Grunde klassisch rockistisch, von einigen "digital" klingenden Produktionsgimmicks abgesehen. Es geht auf der textuellen Ebene um persönlichen Verlust, Ängste, dräuende Gefahren, Überwachung und Kontrolle, aber Computer kommen dabei kaum vor. Eine Ausnahme bildet das Stück "Fitter Happier" genau in der Mitte der zwölf Titel des Albums. In ihm verliest eine Computerstimme vor dem Hintergrundrauschen einer dissonanten Klangcollage ein extrem dystopisches Manifest der neoliberal gewendeten Ausbeutung des Menschen und seiner Produktivkräfte bis hin zur Vernichtung seines Selbst. Von dieser Verhandlungsposition aus, so Zöllner, lassen sich die übrigen Titel und ihre Thematiken durchaus als negativer Zukunftsentwurf der Digitalisierung lesen. Dieser wird aber kaum explizit, sondern in Form von Stimmungen und Stimmungsbildern präsentiert und ausgehandelt − zu einer Zeit, wohlgemerkt, als die populäre Literatur eher euphorische Visionen der Digitalisierung verkaufte, Mobiltelefone gerade erst ihren Weg in die Jackentaschen der Menschen nahmen, kaum jemand eine E-Mail-Adresse hatte und ein "Internetanschluss" noch etwas besonderes war.
Die musikalischen, textuellen, produktionstechnischen und ikonografischen Elemente des Albums OK Computer sowie ihrer intertextuellen Verweise sind für eine weitere Analyse gemeinsam heranzuziehen, gewissermaßen in einer interdisziplinären Überlappung von Musik-, Literatur-, Sound- und Bildforschung in Kombination mit den wissenssoziologischen Ursprüngen der dokumentarischen Methode. Die Gruppe Radiohead selbst hat 20 Jahre später einen Eigenkommentar zum Verständnis ihres Zukunftsentwurfs aus dem Jahr 1997 abgegeben, indem sie der (heute fast schon üblichen) erweiterten Neuedition von OK Computer den Untertitel OKNOTOK (vulgo: okay not okay) gegeben hat. Vage bleibende Unentschiedenheit scheint der Habitus dieser Produktion zu sein, die vor allem "Ausschweifungen des Gefühls" bietet, also jene "orgies of feeling", die Aldous Huxley 1932 in seinem Zukunftsroman Brave New World direkt von Friedrich Nietzsche (1887) entlehnt hat. Nihilismus per Leugnung, ick hör' dir trapsen, auch bei Radiohead. "Fitter, happier and more productive": keine guten Aussichten, aber in der Social-Media-Gegenwart sehr präsent. OK Computer? Irgendwie nicht.
Erschienen in:
Konstruieren – Imaginieren – Inszenieren. Zukunftsentwürfe in der Populärkultur (= Populäre Kultur und Musik, Bd. 42)Auf den Seiten: 237-260
Autoren: Zöllner, Oliver
Hrsg.: Michael Fischer & Markus Tauschek
Erscheinungsjahr: 2024
Verlag: Waxmann
Ort: Münster, New York
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Verlagsbeschreibung
Autoren
- Name:
- Prof. Dr. Oliver Zöllner
- Forschungsgebiet:
- Digitale Ethik, Empirische Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Public Diplomacy
- Funktion:
- Professor
- Lehrgebiet:
- Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Digitale Ethik, Public Diplomacy, Nation Branding, Hörfunkjournalismus
- Studiengang:
- Medienwirtschaft (Bachelor, 7 Semester)
- Fakultät:
- Fakultät Electronic Media
- Raum:
- 216, Nobelstraße 10 (Hörsaalbau)
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