Aufsatz

Was war einmal die Zukunft der Digitalisierung?

OK Computer? Aushandlungen der digitalen Zukunft in einem Schlüsselwerk der Popmusik

Zöllners Beitrag ist erschienen in: Michael Fischer und Markus Tauschek (Hrsg.): Konstruieren – Imaginieren – Inszenieren. Zukunftsentwürfe in der Populärkultur (= Populäre Kultur und Musik, Bd. 42). Münster, New York: Waxmann, S. 237-260 (Bildcollage: Oliver Zöllner).
Zöllners Beitrag ist erschienen in: Michael Fischer und Markus Tauschek (Hrsg.): Konstruieren – Imaginieren – Inszenieren. Zukunftsentwürfe in der Populärkultur (= Populäre Kultur und Musik, Bd. 42). Münster, New York: Waxmann, S. 237-260 (Bildcollage: Oliver Zöllner).

Wie blickte die Popmusik 1997 auf die Zukunft der Digitali­sierung? Und wie blicken wir heute auf diesen Blick in die Zukunft zurück? Diesen Fragen geht HdM-Professor Oliver Zöllner in seinem gerade erschienenen Buch­beitrag "OK Computer?" mit den Methoden der rekonstruk­tiven Sozial­forschung und der rekonstruk­tiven Ethik nach. Er analysiert hierfür das Album OK Computer der britischen Band Radiohead in seinen vielschichtigen musika­lischen, bild­lichen, textuellen und inter­textuellen Bezügen. Am Ende gelangt Zöllner zu der Conclusio, dass das Werk letztlich ein "in der Rück­schau hell­sichtiges Dokument der wüten­den Verzweif­lung über die Dehumani­sierung und Indienst­stellung des Menschen" ist.

Nach einer Darlegung der Ansätze der dokumen­tarischen Methode, die Ralf Bohnsack ab den 1980er-Jahren entwickelt hat, und einem Blick auf die Geschichte der Digitalisierung bis 1997, dem Jahr der Veröffentlichung von OK Computer, rekonstruiert Zöllner das Radiohead-Album und seinen Ent­stehungs­prozess als Dokument eines bestimmten sozialen Habitus. Zöllner ordnet das Werk in eine größere Reihe an pop­musika­lischen Vorläufern ein, die sich ab den späteren 1960er-Jahren mit Robotisierung, Kybernetik und Digitali­sierung befasst hatten. Interessant ist, dass Radiohead bestimmte Thematiken in ihrer meist dystopischen Formu­lierung fortge­schrieben hat, am augenfälligsten wohl das Album I Robot von The Alan Parsons Project aus dem Jahr 1977. Ebenso lässt sich eine Zitaten­linie zu den Alben Wish You Were Here (1975) und Animals (1977) von Pink Floyd nach­zeichnen: Von ihnen finden sich Bildzitate im Cover-Artwork von OK Computer, das dadurch einen antikapita­listischen Gestus deutlich macht, so vage er inhaltlich letztlich auch bleibt.

Negativer Zukunftsentwurf der Digitali­sierung

Auch dies wird deutlich, wenn man sich mit der Radiohead-Produktion befasst: Ihr Titel legt beinahe eine falsche Fährte. Das Thema Digitali­sierung wird kaum manifest behandelt; der Sound ist zwar überwältigend in Sinne eines sonic overload, aber im Grunde klassisch rockis­tisch, von einigen "digital" klingenden Produktions­gimmicks abgesehen. Es geht auf der textuellen Ebene um persönlichen Verlust, Ängste, dräuende Gefahren, Überwachung und Kontrolle, aber Computer kommen dabei kaum vor. Eine Ausnahme bildet das Stück "Fitter Happier" genau in der Mitte der zwölf Titel des Albums. In ihm verliest eine Computer­stimme vor dem Hinter­grund­rauschen einer dissonanten Klangcollage ein extrem dysto­pisches Manifest der neoliberal gewendeten Ausbeutung des Menschen und seiner Produktiv­kräfte bis hin zur Vernichtung seines Selbst. Von dieser Ver­handlungs­position aus, so Zöllner, lassen sich die übrigen Titel und ihre Thematiken durchaus als negativer Zukunftsentwurf der Digitali­sierung lesen. Dieser wird aber kaum explizit, sondern in Form von Stimmungen und Stimmungs­bildern präsentiert und ausgehandelt − zu einer Zeit, wohlgemerkt, als die populäre Literatur eher euphorische Visionen der Digitalisierung verkaufte, Mobil­telefone gerade erst ihren Weg in die Jackentaschen der Menschen nahmen, kaum jemand eine E-Mail-Adresse hatte und ein "Internetanschluss" noch etwas besonderes war.

Die musikalischen, textuellen, produktionstechnischen und ikono­grafischen Elemente des Albums OK Computer sowie ihrer intertextuellen Verweise sind für eine weitere Analyse gemeinsam heran­zuziehen, gewisser­maßen in einer interdisziplinären Überlappung von Musik-, Literatur-, Sound- und Bild­forschung in Kombination mit den wissens­soziologischen Ursprüngen der dokumenta­rischen Methode. Die Gruppe Radiohead selbst hat 20 Jahre später einen Eigen­kommentar zum Verständnis ihres Zukunftsentwurfs aus dem Jahr 1997 abgegeben, indem sie der (heute fast schon üblichen) erweiterten Neu­edition von OK Computer den Untertitel OKNOTOK (vulgo: okay not okay) gegeben hat. Vage bleibende Unent­schiedenheit scheint der Habitus dieser Produktion zu sein, die vor allem "Ausschweifungen des Gefühls" bietet, also jene "orgies of feeling", die Aldous Huxley 1932 in seinem Zukunfts­roman Brave New World direkt von Friedrich Nietzsche (1887) entlehnt hat. Nihilismus per Leugnung, ick hör' dir trapsen, auch bei Radiohead. "Fitter, happier and more productive": keine guten Aussichten, aber in der Social-Media-Gegenwart sehr präsent. OK Computer? Irgendwie nicht.

 


Erschienen in:

Konstruieren – Imaginieren – Inszenieren. Zukunftsentwürfe in der Populärkultur (= Populäre Kultur und Musik, Bd. 42)
Auf den Seiten: 237-260
Autoren: Zöllner, Oliver
Hrsg.: Michael Fischer & Markus Tauschek
Erscheinungsjahr: 2024
Verlag: Waxmann
Ort: Münster, New York

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Verlagsbeschreibung


Autoren

Name:
Prof. Dr. Oliver Zöllner  Elektronische Visitenkarte
Forschungsgebiet:
Digitale Ethik, Empirische Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Public Diplomacy
Funktion:
Professor
Lehrgebiet:
Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Digitale Ethik, Public Diplomacy, Nation Branding, Hörfunkjournalismus
Studiengang:
Medienwirtschaft (Bachelor, 7 Semester)
Fakultät:
Fakultät Electronic Media
Raum:
216, Nobelstraße 10 (Hörsaalbau)
Telefon:
0711 8923-2281
Telefax:
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Homepage:
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