Vortrag

„Torque“ von Richard Serra auf dem Campus der Universität des Saarlandes – und ein Gedanke für die Wissenschaft

Festrede anlässlich der Verleihung der Dr.-Eduard-Martin-Preise, 19. Oktober 2023

 

 

Sehr geehrter Herr Präsident,

sehr geehrter Herr Vizepräsident,

sehr geehrter Vorstand der Universitätsgesellschaft des Saarlandes,

sehr geehrte Preisträgerinnen und Preisträger,

sehr geehrte Doktormütter und Doktorväter,

sehr geehrte Ehrengäste, sehr geehrte Gäste,

sehr geehrte Damen und Herren.

 

Den meisten von Ihnen, insbesondere denjenigen, die hier auf dem Campus arbeiten, Ihnen allen ist „Torque", die monumentale Stahl-Skulptur, die Großplastik des amerikanischen Künstlers Richard Serra bekannt. Sie laufen oder fahren wahrscheinlich fast täglich an dieser Skulptur vorbei. Vielleicht haben Sie sich diese Skulptur auch schon einmal oder gar mehrfach ganz bewusst angeschaut. Vielleicht haben Sie sogar versucht, mit der Skulptur in Dialog zu treten. Vielleicht ist die Skulptur für Sie aber auch nur so irgendein Etwas, das da irgendwie herumsteht.

Aber auch Sie liebe Gäste, die Sie heute erstmals diesen Campus betreten haben, auch Ihnen ist diese Skulptur wahrscheinlich aufgefallen. Und falls nicht - vielleicht haben Sie ja im Anschluss an diese Festveranstaltung noch ein paar Minuten Zeit. Es sind wohl kaum mehr als 100 Meter. Gehen Sie hin. Lassen Sie sich darauf ein. Es lohnt sich.

Seit mehr als 30 Jahren steht diese Großskulptur „Torque" von Richard Serra an exponierter Stelle hier auf dem Campus der Universität des Saarlandes in Saarbrücken.

Anlässlich der Verleihung des Dr.-Eduard-Martin-Preises möchte ich eine neue Perspektive bei der Auseinandersetzung mit dieser Arbeit einnehmen. 

 

 

 

Kapitel 1/3

„Torque" von Richard Serra

 

Torque" aus dem Englischen übersetzt ins Deutsche heißt soviel wie Drehmoment: Das Maß für die Drehwirkung einer an einem drehbaren, starren Körper angreifenden Kraft.

„Torque" – sechs gleichartige Stahlsegmente, die gegeneinander gelehnt sind. Wetterfester Stahl, der im Laufe der Jahre durch Korrosion einen weiteren Rostungsprozess verhindert.

1992 aufgestellt, steht „Torque" nun seit über 30 Jahren an Ort und Stelle.

 

Höhe: 16,79 m

Größte Ausdehnung an der Aufstandsebene: 6,89 m

Größte Ausdehnung an der Spitze: 7,87 m

Maße der einzelnen Segmente: 16,79 x 4,29 m

Dicke der Segmente: 7 cm

Gewicht der einzelnen Segmente 33,4 Tonnen

Gesamtgewicht: 200,466 Tonnen

 

Bewegt man sich im Uhrzeigersinn um die Skulptur, weichen die Stahlsegmente zurück und verwehren den Eintritt in die Skulptur. 

Bewegt man sich gegen den Uhrzeigersinn um die Skulptur, stellen sich die Segmente in den Weg, gewähren aber Eintritt in die Skulptur. 

Probieren Sie es aus.

 

Man fragt sich: Wer erdenkt sich so etwas? 

Richard Serra, geboren 1939 in San Francisco, studiert zunächst englische Literatur an der University of California in Berkeley und Santa Barbara und schließt sein darauffolgendes Kunststudium an der Yale mit dem Master of Fine Arts ab.

Während seines Studiums arbeitet Serra in einem Stahlwerk. Er selbst sagt, dass seine Faszination für den Werkstoff Stahl nicht zuletzt auf diese Arbeit im Stahlwerk zurückgeht. Und mehr noch: Er sagt - Zitat: „Mein Atelier ist das Stahlwerk."*

Richard Serra wird den Kunstrichtungen der Minimal Art, aber auch der Land Art und der Prozesskunst nicht nur zugerechnet, sondern wird als führender Vertreter dieser Richtungen genannt. Er selbst mag diese Zuordnungen zu Kunstrichtungen nicht. Er möchte sich nicht zuordnen lassen.

 

Seit 1968 fertigt Serra Monumentalplastiken aus Stahl und Eisen an. Schwere Stahlplatten, die zu monumentalen Formen aufgestellt sind. Die tonnenschweren und bis zu 20 Meter hohen Stahlplatten sind meist so kombiniert, dass sie sich größtenteils durch ihre Anordnung und ohne zusätzliche Verankerungen im Gleichgewicht halten.

Physikalische Gesetze wie das Gleichgewicht und die Schwerkraft sind zentrales Thema der Werke von Serra. Ihm geht es um das Spiel mit physikalischen Gesetzen. Aber auch um das Spiel mit MaterialLicht und Schatten sowie mit entstehender Raumerfahrung.

Seine Werke sind massiv, schwer und haben eine starke Präsenz. Trotz der meist monumentalen Ausmaße: Irgendwie geht auch eine Leichtigkeit von seinen Werken aus.

 

Was sagt Serra über seine Arbeitsweise?

Experiment und Erfindung sind Kennzeichen seiner Arbeitsweise. [wie in der Wissenschaft]

Der Prozess enthält ein Maß von Unvorhersehbarem. [wie in der Wissenschaft]

„Es funktioniert nicht, ohne eine rigorose, unumstößliche, ja bis zu einem gewissen Grad Wiederholung erfordernde Grundlage." [wie in der Wissenschaft]

Der Prozess ist gekennzeichnet von Staunen nach der Vollendung. [wie in der Wissenschaft]

Der Teil der Arbeit, der am Ende überrascht, führt zu Neuem. [wie in der Wissenschaft]

Der Prozess ist ergebnisoffen. [wie in der Wissenschaft]

Der Prozess ist offengelegt und damit nachvollziehbar. [wie in der Wissenschaft]

 

Überall auf der Welt findet man seine begehbaren Großplastiken:

Amsterdam

Berlin

Bilbao

Bochum

Dillingen

Essen

Hamburg

London

Miami Beach

New York

Paris

Saarbrücken

...

 

Dillingen? 

In Dillingen steht inzwischen nicht nur eine seiner Plastiken. In Dillingen, von der Dillinger Hütte, lässt Serra seit 1986 die Stahlplatten für seine Stahlskulpturen fertigen.

Aus dem Saarland in die Welt.

 

Übrigens: Seine Stahlkunstwerke im öffentlichen Raum sind nicht signiert. Eine Signatur ist nicht notwendig. Denn wenn Sie einmal eine seiner Großplastiken gesehen haben, werden Sie alle anderen auch sofort als die Seinen erkennen.

 

 


 

Kapitel 2/3

Wissenschaft in der Defensive

 

 

Wir wissen so viel wie noch nie in der Geschichte der Menschheit. Der Wissensstand war noch nie so hoch. Und auch die Zugänglichkeit zu Information und Wissen ist besser denn je. 

Und trotzdem wage ich eine Behauptung - und diese ist auch auf Ihrer Einladungskarte zu dieser Festveranstaltung abgedruckt. Ich behaupte: Wir befinden uns in einer Zeit, in der die Wissenschaft aus unterschiedlichen Gründen von Wirtschaft, von Politik, in Medien sowie in der Gesellschaft insgesamt zunehmend in eine verteidigende Haltung gedrängt wird. Es ist en vogue, auf die Wissenschaft zu schimpfen. Wissenschaft hat einen schweren Stand.

 

In Zeiten, in denen Lösungen für gesellschaftliche und/oder politische Herausforderungen und Krisenin Talkshowformate passen und erklärbar sein müssen. 

In Zeiten in denen Erläuterungen zu Hintergründen, zum Kontext, zu Rahmenbedingungen dem Publikum viel zu lange dauern.

In Zeiten, in denen man sich nach klaren Antworten sehnt. Einfachen Antworten. Binären Antworten. Schwarz oder weiß? Ja oder Nein? Richtig oder Falsch? A oder B? 0 oder 1? Dabei wissen wir doch, dass es in der Wissenschaft keine „absolut letzten" Sätze gibt (geben kann).

In Zeiten, in denen die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen zurückgeht - oder sagen wir, in Zeiten in denen die Bereitschaft der Menschen zurückgeht, einer Sache - und zwar wirklich einer - längere Zeit ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken.

In Zeiten, in denen unliebsame Wahrheiten erst gar nicht gehört werden wollen, weil sie nicht ins eigene Weltbild passen. Denn: Wir Menschen können nicht immer mit Fakten überzeugt werden. Im Zweifel halten wir - trotz wissenschaftlicher Erkenntnisse - lieber an Traditionen oder Vorurteilen fest. Oder: an gewohntem, bequemem Verhalten.

Die Zahl der echten Wissenschaftsleugner ist zum Glück überschaubar. Aber sie sind heute - sie können heute - besonders laut sein. Nicht zuletzt die Plattform Twitter führt uns dies in den vergangenen Jahren eindrücklich vor Augen. 

Es gibt interessengeleitete Wissenschaftsleugnung. Mit gezielter Desinformation. Durch soziale Medien werden damit immer mehr Menschen erreicht. Wir leben in Zeiten von Verschwörungserzählungen und Filterblasen.

Das Problem dabei: Es entsteht ein generelles Misstrauen gegenüber Fakten und gegenüber der Wissenschaft. So ist es auch zu erklären, dass fast ein Drittel aller Deutschen sagt, sie würden ihren Gefühlen mehr Vertrauen als wissenschaftlicher Expertise.

 

 

 

Kapitel 3/3

... für die Wissenschaft

 

Was können wir tun? Was möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben?

Klar ist: Die Qualität von Wissenschaft ist wichtig - ja essenziell. Nur so behält und gewinnt die Wissenschaft Vertrauen. Daran muss täglich gearbeitet werden.

 

Ich muss Ihnen aber nicht sagen, wie gute wissenschaftliche Praxis aussieht. Sie werden ja heute geehrt, weil Sie gute Wissenschaft praktiziert haben. Exzellente sogar.

 

Trotzdem möchte ich - anhand der Arbeitsweise von Serra sagen - mich wiederholen:

Wissenschaft ist Experiment und Erfindung.

Wissenschaft enthält ein Maß von Unvorhersehbarem.

Wissenschaft braucht eine rigorose, unumstößliche, ja bis zu einem gewissen Grad Wiederholung erfordernde Grundlage. 

Wissenschaft ist gekennzeichnet von Staunen nach der Vollendung. 

Wissenschaft überrascht, und führt zu Neuem. 

Wissenschaft ist ergebnisoffen.

Wissenschaft ist offengelegt und damit nachvollziehbar.

 

Egal wohin es Sie verschlägt - und das meine ich sowohl geografisch als auch hinsichtlich Ihrer beruflichen Rolle, die Sie ausfüllen werden - ob in der Wirtschaft, ob weiterhin in Forschung und Lehre oder wo auch immer...

 

Verteidigen Sie die Wissenschaft.

Treten Sie ein für die Wissenschaft.

Stabil und standhaft, wie unser „Torque".

 

Seit über 30 Jahrenüber 16 Meter hochüber 200 Tonnen schwer.

 

Die Skulpturen von Richard Serra, welchen Sie überall auf der Welt über den Weg laufen werden - und wie bereits gesagt: Sie werden sie sofort als solche erkennen - werden Sie immer wieder daran erinnern. In ...

Amsterdam

Berlin

Bilbao

Bochum

Dillingen

Essen

Hamburg

London

Miami Beach

New York

Paris

Saarbrücken

...

Die Skulpturen von Richard Serra werden Sie erinnern ...

... an Ihre Zeit an der Universität des Saarlandes. 

... an Ihre Zeit als Doktorandin oder Doktorand. 

... an Ihre Zeit als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler. 

... an das, was Wissenschaft ausmacht. 

 

Aus dem Saarland in die Welt.

 

Sie sind exzellente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Verteidigen Sie die Wissenschaft. Treten Sie ein für die Wissenschaft.

Stabil und standhaft, wie unser „Torque".

 

Wenn nicht Sie, wer sonst sollte dies tun?

 

Hochachtungsvolle Gratulation. Herzliche Glückwünsche. Alles Gute. Herzlichen Dank.

 

 

 

 

Serra, Richard: Erweiterte Notizen zu Sight Point Road. In: Loebens, Uwe: Torque. Richard Serra. Dokumentation zu der Großskulptur auf dem Campus der Universität des Saarlandes, Saarbrücken, 1993. Studien. Schriftenreihe des Instituts für aktuelle Kunst im Saarland an der Hochschule der Bildenden Künste Saar, Saarlouis, Nr. 2, Seite 2; dort entnommen aus: Serra, Richard, Neue Skulpturen in Europa 1977 - 1985. Hrsg. Galerie m, Bochum 1995, S. RS 5-RS 10.

 

Verwendete Quellen:

Best, Volker/Decker, Frank/Fischer, Sandra/Küppers, Anne: Demokratievertrauen in Krisenzeiten. Wie blicken die Menschen in Deutschland auf Politik, Institutionen und Gesellschaft?, Bonn (Friedrich-Ebert-Stiftung) 2023.

Kühl, Eike: Wenn die Wissenschaft verstummt. In: Zeit Online, 18.08.2023, online: https://www.zeit.de/digital/internet/2023-08/twitter-x-elon-musk-mitarbeiter-wissenschaft?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.startpage.com%2F, abgerufen am 15.10.2023.

Lahne, Sina: Ein Blick auf: Richard Serra. In: Kunztplaza, online: https://www.kunstplaza.de/kuenstler/ein-blick-auf-richard-serra/#Richard_Serra_zum_Ansehen, abgerufen am: 15.10.2023.

Lehning, Lukas: Wissenschaftskommunikation: Mittel gegen Wissenschaftsfeindlichkeit, Berlin, 2023. Working Paper Institut für Innovation und Technik, Berlin Nr. 64.

Loebens, Uwe: Torque. Richard Serra. Dokumentation zu der Großskulptur auf dem Campus der Universität des Saarlandes, Saarbrücken, 1993. Studien. Schriftenreihe des Instituts für aktuelle Kunst im Saarland an der Hochschule der Bildenden Künste Saar, Saarlouis, Nr. 2.

o.V.: Warum Wissenschaftler Twitter verlassen. In: Forschung und Lehre, 17.08.2023, online: https://www.forschung-und-lehre.de/zeitfragen/warum-wissenschaftler-twitter-verlassen-5845, abgerufen am 15.10.2023.

o.V.: Wissenschaftsbarometer 2022. Berlin (Wissenschaft im Dialog) 2022.

 

 

Vortrag auf Veranstaltung: Auszeichnung von herausragenden Doktorandinnen und Doktoranden / Verleihung der Dr.-Eduard-Martin-Preise
Veranstaltungsort: Universität des Saarlandes, Saarbrücken
Datum: 19.10.2023


Autoren

Eingetragen von

Name:
Prof. Dr. Uwe Eisenbeis  Elektronische Visitenkarte


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