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Die Streaming-Welle: Spotify, Netflix & Co. in der digitalen Medien­gesellschaft

Neues E-Book zu Motiven und zur Reflexion der Nutzung von Audio- und Video­streaming­diensten

Das E-Book
Das E-Book "Die Streaming-Welle: Spotify, Netflix & Co. in der digitalen Medien­gesellschaft" kann kostenlos heruntergeladen werden (Cover-Illustration: Annalena Geul).

Gefühlt schaut jetzt niemand mehr lineares Fern­sehen. Auch die klassische Stereo­anlage scheint out zu sein. Heute streamt man Bewegt­bild- und Audio­inhalte. Nicht zuletzt in der COVID-19-Pandemie haben die Streaming­anbieter großen Zu­lauf gehabt. In einem Werk­statt­seminar zur empiri­schen Medien­for­schung haben dieses Phäno­men rund 60 Studie­rende unter Anlei­tung von HdM-Professor Dr. Oliver Zöllner erforscht. Fünf der im Sommer­semester 2021 so entstan­denen Fall­studien sind nun in einem E-Book erschie­nen: "Die Streaming-Welle: Spotify, Netflix & Co. in der digitalen Medien­gesellschaft. Motive und Reflexion der Nutzung von Audio- und Video­streaming­diensten".

Die Domestizierung von Medien und Techno­logien, ihr Einzug und ihre Inte­gration in den Alltag von Menschen, vollzieht sich meist schleichend.[1] Irgend­wann gibt es einen Punkt, an dem plötzlich gefühlt jeder und jede ein bestimmtes Gadget oder einen Dienst daheim hat. In Deutsch­land nahm ab etwa 2015 das Streamen von Audio- und Bewegt­bild­inhalten deutlich an Fahrt auf und zumindest CDs, DVDs und Down­loads verloren zuneh­mend an Bedeutung - zuerst bei jüngeren Zielgruppen, rasch auch bei etwas älteren. Die Fernseh- und Hörfunknutzung dagegen bleibt in Deutsch­land auf einem recht stabilen Niveau, steigt teils sogar an.[2] Speziell jüngere Ziel­gruppen erscheinen in ihrem Medien­konsum stark web- und streamingaffin, sind den traditionelleren Broad­cast­medien aber keines­wegs entfremdet.[3] Während der Covid-19-Pandemie nahm die Nutzung von Streamingportalen allerdings allge­mein deut­lich weiter an Fahrt auf.[4]

Doch bereits vor dieser Ausnahme­situation war es für viele Menschen längst „normal", Musik über Spotify (und einige weitere Anbieter mit deutlich kleinerem Marktanteil) zu hören und Filme über die Plattformen von Netflix, Amazon Prime Video und Disney+ zu schauen. Medial gesehen eröffnet dieser Wandel fast schon ein neues „Zeitalter"[5], mindestens ist er aber Ausdruck einer tiefgreifenden Mediatisierung in der Digitalität.[6] Audiostreaming bietet die Möglichkeit, bequem und ubiquitär auf Millionen von Musiktitel und Podcastfolgen zuzugreifen, die man im klassischen Geschäftsmodell der Musikindustrie hätte einzeln kaufen müssen; ähnlich verhält es sich beim Streamen („Durchleiten") von Videoinhalten über Internet­verbindungen. Man besitzt die Inhalte typischer­weise nicht mehr, sondern erwirbt über ein Abonnement lediglich das Recht, sie zu nutzen. Mindestens spart das Platz im Regal, wo sich einst Videocassetten, DVDs, Langspielplatten, CDs usw. stapelten und viel Raum für sich in Anspruch nahmen.[7] Die Digitalität ist auch von Entmateriali­sierung geprägt (scheinbar jedenfalls - die vielen notwendigen physischen Geräte und Apparaturen werden in dieser Sichtweise meistens ausgeblendet) und schafft mit den Streamingangeboten zugleich neue Geschäftsmodelle.

Streamingdienste in der Coronapandemie

Während der Corona­pandemie ab Frühjahr 2020 wurde speziell das Videostreaming zum beliebten Smalltalk­thema. Man tauschte sich aus über die neuesten Serien, die lohnendsten Filme, die inter­essantesten Entdeckungen aus dem riesigen Repertoire der Anbieter. Mit House of Cards, seiner ersten Eigen­produktion, hatte Netflix bereits 2013 einen großen Anreiz für ein Abonnement gesetzt. Diese Strategie sollte sich auch in den Folgejahren als erfolgreich erweisen.[8] Spätestens während der vielen Ausgangsbeschränkungen und der mit ihnen einhergehenden Schließungen von Restaurants, Kneipen, Kinos, Konzerthallen und anderen Orten des sozialen Austauschs und des Entertain­ments musste für viele Menschen ein Ersatz her. Man konnte ja nichts machen, hieß es allgemein.

Salopp ließe sich formulieren: Just in diese Leerstellen des aus der Bahn geworfenen Alltags passten sich die Streaming­angebote weiter ein. Oft über Wochen zu Hause eingeigelt und auf das sehr begrenzte Begegnungs­umfeld des eigenen Haushalts zurückgeworfen, konnten die Menschen die entstandene (so jedenfalls wahrge­nommene) leere Zeit oder lange Weile füllen. Natürlich wurden während der Pandemie in der Freizeit auch Bücher gelesen, Hobbies gepflegt oder vielleicht sogar auch einmal nachgedacht - Muße bietet ja durchaus auch die Möglichkeit, die eigene Existenz zu reflektieren, also wer man sein möchte[9] -, und nicht zuletzt haben die meisten Menschen auch weiterhin gearbeitet, ob von daheim oder klassisch im Betrieb. Aber um diese anderweitig gefüllten Zeiten herum wurde in den Wohnungen oftmals emsig gestreamt. Diese intensivierte alltägliche Praxis scheint den Menschen Freude bereitet zu haben, hat sie vielleicht auch die Anwürfe und Unsicherheiten der bedrohlichen Pandemielage aushalten, ja regelrecht aussitzen lassen oder zumindest dazu beigetragen. Man könnte formulieren: Wenn solche technisch-medialen Innovationen erstmal „da sind", sich im Alltag positioniert haben, sind sie durch die bloße Tatsache ihres Funktionierens bereits eine Weise ihrer Verwendung.[10] Aber was passiert dabei genau? Der Digitaltechnik - und in ihrer Folge auch dem Streaming - ist deshalb so schwer beizukommen, „weil sie wirklich funktioniert"[11] und scheinbar so einfach ist. Vielleicht ist das die größte Problemlösungskompetenz, die Menschen ihr zuschreiben. Menschen schaffen mit digitalen Angeboten und Gadgets neue soziale Kontexte für existierende Technologien - und reflektieren sie dann kaum noch. Das „neue Normal" fällt kaum noch auf.

Neue Programmauswahlhoheit

Dabei ist Audio- oder Videostreaming auf der Inhaltsseite nichts wirklich Neues. Geht man mit McLuhans längst klassischen Thesen davon aus, dass jedes neue Medium ein älteres beinhaltet und quasi weiterentwickelt[12], könnte man Spotify als das neue Radio bezeichnen und Netflix und seine Mitbewerber als das neue Fernsehen. Mit dem (neben der anders gearteten Übertragungstechnik) entscheidenden Unterschied allerdings, dass der Konsum der Inhalte nicht mehr einem starren, linearen Programmschema folgen muss, sondern die Nutzerinnen und Nutzer die Inhalte zeitsouverän abrufen können, wann immer es ihnen zeitlich und situativ beliebt. Diese neue Programm­auswahl­hoheit der Nutzerinnen und Nutzer, die der klassische Hörfunk und das Broadcast-TV nicht bieten können, ist sicher einer der Gründe für den Erfolg der Streamingdienste. Sie verweist aber auch auf einen anderen Aspekt der Digitalisierung bzw. geradezu eines ihrer Hauptversprechen: das Gefühl einer fokussierten Individualisierung im strukturellen Rahmen des Kollektivs. Mit Reckwitz könnte hier auch von einer „Singulari­sierung des Sozialen" gesprochen werden, einer Art Besonderung des Einzelnen im größeren kollektiven Geflecht.[13]

Die Rezipientinnen und Rezipienten können mittels Streaming also im Kern vor allem die Erfüllung ihrer persönlichen medialen Bedürfnisse durchsetzen, wenn auch nur innerhalb des vorgegebenen Angebots. Diese Individualisierung geht zugleich mit einem gewissen Verlust von Sozialität einher: Der Einzelne oder die familiale Kleingruppe schaut in ihrem Wohnzimmer eben nicht mehr zur selben Zeit das, was auch „die Anderen" schauen, und wird so in geringerem Maße von Themen erreicht, die für die Gesellschaft relevant sind. Das partikulare Eigeninteresse wird bei der Streamingrezeption zum normierenden Fokus. Streamingangebote erlauben das punktgenaue Bedienen der eigenen, vielleicht gänzlich idiosynkratischen musikalischen oder filmischen Präferenzen durchaus im Sinne einer „Affektinszenierung".[14]

Vor diesem Hintergrund konnte man während der Pandemie denn auch beobachten, dass sehr persönliche Vorlieben Anlass für vielerlei Anschlusskommunikation boten: persönlich, per Telefon oder in Online-Foren. Man tauschte sich aus und gab sich Tipps und Empfehlungen. Viele Menschen beklagten sich irgendwann, sie könnten die schiere Überfülle an vorgeschlagenen Filmen, Serien, Musikalben und Podcastfolgen rezeptiv kaum noch bewältigen. Wie auch andere Medien und Technologien haben Streamingdienste offenbar eine eigene „Affordanz" und fordern ihre Nutzenden auf, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten:

„Die Affordanz einer Medientechnologie entsteht im Austausch von Subjekt und Objekt, als Interaktion zwischen Mediennutzer und technologischem Artefakt. Dabei liegt der Fokus nicht auf der Wahrnehmung von Technologien, sondern auf sozial und kulturell geprägten Handlungsprozessen: Die (technologischen) Merkmale von Medien beeinflussen das Handeln der Nutzer, welches gleichzeitig Einfluss auf die Medientechnologien nimmt (z. B. Softwareeinstellungen, Gebrauchsnormen, interpretative Schemata)."[15]

Wo etwa das Smartphone häufige Berührung und Status-Updates verlangt, WhatsApp ständige Erreichbarkeit[16], die E-Mail stets konsequentes und promptes Antwortverhalten oder Videokonferenz­systeme starres (und aufmerksames!) Vor-dem-Bildschirm-Sitzen einfordern, so scheinen Streamingdienste Menschen zu permanenten Entscheidungsfindungen anzutreiben: Was will ich einschalten, sehen, hören, fortsetzen oder auch aufgeben? Wie viel davon? (Im Zweifel: immer mehr!) Was muss ich kennen, was darf ich nicht verpassen? Welche Inhalte interessieren mich oder passen zu mir? Also: Wer bin ich? Was ist mein Programm?

Algorithmen und Vorhersage

Diese nur auf den ersten Blick leichten Fragen haben die Streamingdienste für ihre Kundinnen und Kunden gewissermaßen selbst beantwortet - und damit auch das Geschäftsmodell der Unterhaltungsindustrie auf ganz neue Füße gestellt. Indem sie permanent Daten über ihre Nutzenden sammeln und diese algorithmisch gestützt auswerten, können sie ihren Kundinnen und Kunden Empfehlungen geben auf der Basis der individuellen Präferenzen (was wurde zuvor bereits angesehen bzw. gehört?) sowie auch der Konsumentscheidungen der anderen Nutzenden der jeweiligen Plattform (also deren reale Abrufe). Dieses Empfehlungssystem mit seiner Analyse der zurückliegenden Nutzung und Vorhersagen über zukünftiges Verhalten ist sicher ein wesentliches Attraktionsmerkmal der Streamingdienste und behebt für manche Menschen das alte Problem der Überfülle: Was soll ich tun? Bei Personen, die sich schwertun, Entscheidungen zu treffen, mögen die recommendation systems hoch willkommmen sein. Digitale Praktiken strukturieren die persönliche Lebenswelt - und nehmen uns nach einem nihilistischen Prinzip einen Teil unserer Verantwortung ab, selbst bei so alltagsbanalen Entscheidungen, was man heute Abend anschauen möchte.[17] Die Digitalisierung bringt manchmal ganz neue Bequemlichkeiten mit sich, die im Grunde aber die alten sind: Die linearen Vorgängermedien haben den Medienkonsum letztlich ganz ähnlich vorstrukturiert, bloß eben ohne Algorithmisierung.

Zugleich stellt die permanente Protokollierung, Speicherung und Auswertung der Nutzungsdaten durch die Streamingplattformen ein neues Geschäftsfeld dar, in dessen Kontext die Anbieter nicht mehr bloß in erheblichem Maße natürliche Ressourcen ausbeuten, etwa Energie[18], sondern obendrein eben auch die Rezipienten. Im Zeitalter des Datenkapitalismus und seiner sehr elaborierten Überwachungslogiken ist es also zusätzlich der nutzende Mensch, der vernutzt wird.[19] Er produziert unmittelbar während seiner Rezeptionsvorgänge sehr detaillierte Datensätze, die die Anbieterplattformen kombinieren, weiterverarbeiten, teils auch verkaufen und für sehr weitreichende Marketing-, Kontroll- und Vorhersageauswertungen verwenden. Der Persönlichkeits- und Datenschutz ist beim Streaming also heikel, oft auch ungeklärt. Die Anbieterplattformen sind zugleich Datenhändler und de facto Marktforschungsinstitute, die auf Basis einer Vollerhebung ihre Kunden live beobachten.[20] „Die Akkumulation dieser Daten ist in der corporate surveillance zu einer der primären ökonomischen Kräfte geworden."[21] Neben der Beobachtung der aktuellen Nutzung und der Prädiktion zukünftigen Verhaltens auf der Plattform soll via „mood management" auch die Stimmung der Kund:innen in Richtung guter Laune gesteuert werden.[22] In diesem Kontext werden somit zunehmend aktuelle Stimmungslagen der Nutzenden abgeleitet und ausgewertet.

Auf der Benutzeroberfläche, dem front end, scheint Streaming enorm große Auswahl- und damit vielfältige menschliche Handlungsoptionen zu bieten: frei wählbare Filme, Podcasts, Musiktitel, die Unterhaltungs- und/oder Informationszwecken dienen. Die Affordanz der technischen Apparatur nimmt den im Heideggerschen Sinne „bestellten" Menschen jedoch im back end, also auf der Ebene der systemischen Funktionsmechanismen, einen Teil ihrer Freiheit und Autonomie: Sie werden als Ressource eigener Art ausgebeutet: mit dem Fokus auf ihre Daten. Mit Heidegger (2005; zuerst 1949) ließe sich hier formulieren, dass die Menschen beim Streaming und seiner Datenlogik zum „Bestand" des Systems werden, also in eine Machtbeziehung der technischen Apparatur eingeordnet oder eben „bestellt" werden: „In das Bestellen gewendet, ist [der Bestand] in das Verwenden gestellt. Das Verwenden stellt jegliches im Vorhinein so, dass das Gestellte dem folgt, was erfolgt".[23] Im Sinne dieses utilitaristischen und disziplinierenden Prinzips werden die Nutzerinnen und Nutzer der Medien also zu den Dienenden der Medien, die im Akt ihres Dienens etwas herstellen (Protokoll- bzw. Beobachtungsdaten), das vorrangig dem Funktionieren des Systems nutzt. Streaming ist vor diesem Hintergrund für Menschen das permanente Angebot und die damit einhergehende ständige Aufforderung, solche Plattformen zu nutzen und in ihnen quasi aufzugehen: durch ubiquitäre Nutzung und permanente Datenproduktion vor allem zum Wohle der Anbieterplattformen.[24] Die Nutzerinnen und Nutzer sind mit Blick auf Streamingplattformen zumindest dazu aufgefordert darüber nachzudenken, ob diese Mediendienste wirklich das sind, was sie zu sein vorgeben. Das front end verspricht möglicherweise etwas ganz anderes als das back end.

 Die fünf empirischen Studien im E-Book

Mit diesen Ideen und Prämissen fand sich im Sommersemester 2021 an der Hochschule der Medien in Stuttgart im Studiengang Medienwirtschaft ein Kurs zur „Empirischen Medienforschung" zusammen. Die rund 60 Studierenden teilten sich auf insgesamt elf Forschungsprojekte auf, die sie eigenständig recherchierten, planten, im Feld umsetzten und auswerteten. Fünf dieser Projekte werden im vorliegenden E-Book dokumentiert.

Sarah be Bakos, Tamara Buzdumovic, Lina Coils, Leonie Dapfer, Steven Hermanutz, Laura Maas und Marie Senghas erkunden in ihrem Beitrag (S. 20–90) die „Auswirkungen des Angebots von Spotify auf die Konzentration in unterschiedlichen Lern- und Arbeitssituationen". Auf der Basis von qualitativen Tiefeninterviews stellen die Autorinnen und Autoren Hypothesen auf, die sie anschließend in guter sozialwissenschaftlicher Tradition mit den Ergebnissen einer standardisierten Befragung stützen bzw. widerlegen wollen. Sie kommen zu dem Befund, dass das Hören von Musik via Streaming - mehr oder weniger als „Hintergrundrauschen" - bis zu einem gewissen Grad die mentale Konzentration von Menschen fördern und den Arbeitsworkflow verbessern helfen kann. In Situationen mit einem hohen Konzentrationsbedarf hingegen, so die Studie, scheinen die Auswirkungen des Audiokonsums auf die Konzentration insbesondere von weiteren persönlichen Faktoren abhängig zu sein.

David Birkenberger, Özkan Katirci, Marlon Lachenmayer und Marek Neuwirth schauen auf „Prägungen der Hörgewohnheiten von Musik durch die Affordanz von Spotify" (S. 91–169). Im Fokus stehen dabei die datafizierten, algorithmisch gesteuerten Playlists und wie Menschen mit ihnen umgehen. Ein Ergebnis der qualitativen Studie ist, dass die technischen Features von Spotify die Nutzerinnen und Nutzer dazu anregen, verstärkt Neuerscheinungen zu hören, was bei ihnen zur Routine wird und spezielle habitualisierte Muster ausbilden lässt wie zum Beispiel das regelmäßige Hinzufügen von Neuerscheinungen zu einer bestimmten Playlist. Die Suche nach dem nächsten Hit ist nie zu Ende.

Tanja Piechottka, Gina Ruider, Sabrina Späth, Alessia Sussmann und Olivia Wohlfahrt untersuchen den „Gesellschaftstrend Nachhaltigkeit" (S. 170–288) mit der kritischen Nachfrage, inwieweit Netflix und andere Streamingportale „Selbstbetrug" seien, die Nutzenden sich also bloß vorgaukeln, mit ihrem entmaterialisierten Videokonsum einen Beitrag zur Ressourcenschonung zu leisten - immerhin fährt man ja nirgendwo hin und kauft auch keine beschichtete Plastikscheiben oder andere Speichermedien. In Tiefeninterviews geben Befragte hierzu vielschichtige Antworten. Es zeichnet sich ab, dass die Tiefe und Breite des Angebots bei Streamingdiensten Menschen eher dazu verleitet, mehr zu schauen bis hin zum nicht selten auftretenden „Binge-watching", dass in diesem Zuge die Frage nach Ressourcenverbrauch (Energie, Rohstoffe für die Apparaturen usw.) aber weitgehend ausgeblendet wird. Ein gewisser Nihilismus oder zumindest ein blinder Fleck ist für diesen Aspekt also deutlich zu konstatieren.

Saskia Baumert, Lisa Marie Glock, Lisa Papazois, Mirjam Ruckh, Leonie Spreng und Olivia Thieme analysieren in ihrem Projektbericht (S. 289–370) die „Nutzung und Wahrnehmung der personalisierten Empfehlungen von Netflix". Tatsächlich greifen die qualitativ Befragten dieser Studie bei der Auswahl von Inhalten in erheblichem Maße häufig auf die algorithmischen und personalisierten Empfehlungen der Plattform zurück. Das Bewusstsein der Nutzenden über die Funktionsweise des Algorithmus und die Personalisierung der Empfehlungen ist in der Stichprobe größtenteils zwar durchaus grundsätzlich vorhanden, doch über die genauen Kriterien herrscht weitgehend Unkenntnis bzw. ein nur lückenhaftes Verständnis - ein typisches Merkmal des Alltagshandelns in digitalen Umwelten.

Matt Acher, Yuki Apitz, Gregor Götting, Valeria Henkel, Jonas Hermann und Piet Kleeßen blicken in ihrer Studie (S. 371–435) auf die „Auswirkung von Videostreaming auf das Affiliationsmotiv bei Studierenden". Im Rückgriff auf das Affordanzkonzept der Mediensoziologie und seiner Frage nach dem Aufforderungscharakter von Medien untersuchen die Autorinnen und Autoren die Ausprägungen des aus der Psychologie stammenden Motivs der Affiliation, also des Bedürfnisses nach sozialer Interaktion und der Frage, welchen Einfluss hierbei die Nutzung von Streamingplattformen hat. Im Rahmen eines Paneldesigns wurde in dieser quantitativen Studie eine standardisierte Onlinebefragung zu drei Erhebungszeitpunkten durchgeführt (inklusive einer Verzichtsphase auf Videostreaming). Die Ergebnisse deuten an, „dass Videostreaming zumindest in Einzelfällen zu einer Befriedigung bzw. Kompensation des Affiliationsmotivs beitragen kann. Die Nutzungsdauer und/oder -häufigkeit scheint sich dabei aber nicht auf den Grad der Befriedigung bzw. Kompensation auszuwirken." Videostreaming kann alles in allem den realen Kontakt mit Menschen nicht ersetzen. Nicht erfüllte Verbundenheitsbedürfnisse, speziell bei Personen mit einer stark ausgeprägten Hoffnung auf Anschluss, sind ein Motivator für die Nutzung von Videostreaming.

Studentische Leistung

Sämtliche im E-Book dokumentierte Studien wurden im äußerst knappen Zeitraum von rund vier Monaten konzipiert, im Feld umgesetzt und ausgewertet. Nicht nur das allein ist eine Leistung. Zudem ist zu berücksichtigen, dass alle empirischen Erhebungen im Rahmen des Kurses vor dem Problem standen, dass pandemiebedingt fast nur unter Zuhilfenahme von Onlinetools geforscht werden konnte - und auch der Kurs selbst ausschließlich per Videokonferenzsystem stattfand. Wir haben uns nicht ein einziges Mal persönlich treffen können. In schöner Spiegelung des Kursthemas fand also großenteils „gestreamte" Forschung statt. Umso schöner, dass trotz der vielen widrigen Umstände alles so gut geklappt hat.

Ausblick: Ist Streaming nur eine Welle?

Warten wir einmal ab, inwieweit Streaming nur eine „Welle" ist: Bereits 2022 deuten sich bei den Videostreamingdiensten erhebliche Veränderungen an. „Die fetten Jahre sind vorbei", findet Rehfeld und sieht den Markt an seine Grenzen stoßen.[25] Auch Spotify gerät angesichts einiger abwandernder Zulieferer (lies: Musiker:innen, die ihre Titel sperren) und Vorwürfen, mit manchen zweifelhaften Podcasts Desinformationen zu verbreiten, in die „Zwickmühle".[26] Wie sich die Anbieter weiter entwickeln werden, bleibt abzuwarten; neue Konkurrenten mit neuen Geschäftsideen werden entstehen. Vielleicht steht am Ende die Erkenntnis, dass gute Plattformen und gute Inhalte „nicht von Algorithmen gemacht" werden: „die richten sie vielmehr mittelfristig zugrunde. Die richtigen Entscheidungen treffen Menschen mit Maßstäben - und zwar ihren eigenen".[27] Dieses im Kern ethische Prinzip, so kann man hier festhalten, gilt sowohl für die Anbieter- wie auch für die Rezipientenseite. Und die nächste sehnsuchtsvolle Nostalgiewelle kommt bestimmt. Vielleicht sind dann plötzlich wieder Hörfunk und Fernsehen, digital aufgepimpt, das neue große Ding.

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Zöllner, Oliver (Hrsg.) (2022): Die Streaming-Welle: Spotify, Netflix & Co. in der digitalen Medien­gesellschaft. Motive und Reflexion der Nutzung von Audio- und Video­streaming­diensten. Fünf empirische Fallstudien. Stuttgart: Hoch­schule der Medien, 435 Seiten. E-Book, URL: hdms.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/6707/file/Streaming-Welle_2022.pdf. URN: urn:nbn:de:bsz:900-opus4-67076. SSOAR: www.ssoar.info/ssoar/handle/document/77834.

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Anmerkungen:


[1] Vgl. Röser 2015; Röser und Müller 2017.

[2] Vgl. Mai und Reichow 2021; Kupferschmitt und Müller 2021.

[3] Vgl. Feierabend et al. 2021, S. 24-28, 43-48.

[4] Vgl. Beisch et al. 2021; Birkel et al. 2021.

[5] Barker und Wiatrowski 2017.

[6] Vgl. Hepp 2020.

[7] Vgl. Elster 2021, S. 179-196.

[8] Vgl. McDonald und Smith-Rowsey 2016.

[9] Vgl. O'Connor 2018, S. 1-24.

[10] Frei nach Anders 1980, S. 217.

[11] Nassehi 2019, S. 326.

[12] Vgl. McLuhan 1964; McLuhan und McLuhan 1988, S. 129-239.

[13] Reckwitz 2017, S. 226.

[14] Reckwitz 2017, S. 227.

[15] Zillien 2008, S. 176-177.

[16] Vgl. Bachmann et al. 2019.

[17] Vgl. Gertz 2018, 59-87.

[18] Vgl. Devine 2019, S. 129-164.

[19] Vgl. Turow 2011; Zuboff 2019.

[20] Vgl. Eriksson et al. 2019, S. 3-5.

[21] Stäheli 2021, S. 66.

[22] Eriksson et al. 2019, S. 121-137.

[23] Heidegger 2005, S. 26.

[24] Vgl. näher hierzu Zöllner 2022.

[25] Rehfeld 2022, S. 13.

[26] Fischer 2022, S. 20.

[27] Vahabzadeh 2022, S. 9.

 

 


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