Analoge Sammlungen in der Digitalität
Transzendente Hinterlassenschaften und der Tod
Warum sammeln Menschen? Was ist der Reiz an der systematischen Anhäufung materieller Objekte? Was hat das mit dem stets dräuenden Lebensende zu tun, dem ins Auge zu blicken manchen Pein bereitet, andere Gelassenheit lehrt? HdM-Professor Oliver Zöllner hat hierzu am 21. März 2024 einige Gedanken und Einblicke auf einer Tagung präsentiert, die den geradezu knirschend knochentrockenen Titel "Neues vom Tode" trug. Ausrichter war der (sehr vitale) Arbeitskreis Thanatologie der Sektion Wissenssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), Veranstaltungsort die (an diesem Tage heiter sonnenbeschienene) Eberhard-Karls-Universität Tübingen.
Zöllner referierte in seinem Vortrag über "Schallplattensammlungen als transzendente Hinterlassenschaften". Nach einem Überblick über philosophische Positionen zum Tod (Platon, Epikur, Aristoteles, Heidegger, Bloch) skizzierte er soziologische Aspekte des in der Gegenwart der tiefen Digitalität "auferstandenen" Mediums Schallplatte. Dieses noch vor 20 Jahren "tot" geglaubte Medium ist längst ein positiv fetischisiertes Sammelobjekt mit eigenen Börsen, primären und sekundären Online-Marktplätzen, kommerziellen Spekulationsblasen, einer eigenen Fachpublizistik usw. – und auch ein soziales Event (institutionalisiert etwa im zwei Mal jährlich weltweit stattfindenden Record Store Day). Indem das materielle Warenobjekt Vinyl als "unkaputtbar" gilt, erscheint es, transzendental und ontologisch umkodiert, als ein Objekt mit "Ewigkeitswert", das über die Existenz der Nutzer bzw. Sammler hinausweist. Letztere neigen dazu, das Objekt ihrer Leidenschaft geradezu zu sakralisieren, mindestens aber zu überhöhen. Schallplatten und ihre Hüllen fangen auf einer ganz und gar profanen Ebene aber auch die Verwendungsspuren ihrer Besitzer ein: Kratzer, Knicke, Einkrustungen und Beschriftungen, die an die Eigentümer und/oder Vorbesitzer aus vergangenen Jahrzehnten erinnern können; diese hör- und sichtbaren Markierungen sind quasi Lebensspuren. Zunehmend dominieren im Laufe der Zeit zudem verstorbene Musikerinnen und Musiker eine wohlsortierte Plattensammlung – als seltsam Untote, konserviert in den Rillen des Vinyls. Auch sie verweisen auf die Endlichkeit der menschlichen Existenz. Als dokumentarisches Konvolut spiegeln Schallplattensammlungen die Biografien der Besitzenden, so Zöllner.
Der sammelnde Mensch siegt (ein wenig) über den Tod
Damit adressieren Schallplatten und andere sammelbare Güter ein existenzielles Problem: Auch die eigene Sammlung will eines Tages tradiert, vererbt werden. Doch wer wird sie haben und fortführen wollen? Was bleibt vom ursprünglich Besitzenden? Dies ist ein Kernproblem der menschlichen Existenz und des Umgangs mit der Unausweichlichkeit des eigenen Todes. Der sammelnde Mensch siegt (ein wenig) über den Tod, indem er zu Lebzeiten mit seinen "geliebten Objekten" (T. Habermas 1999) glücklich ist, etwas zu vererben hat und so Erinnerungen hinterlässt. Die Sammlung erscheint als Locus einer Bedeutungsproduktion. Im Sammeln, in der Suche nach Vervollständigung, drückt sich eine Überwindung der Todesangst aus, auch wenn sich die Sammlung selbst irgendwann in alle Winde zerstreut haben wird (wenn sie nicht gar im Müll landet). Nicht zuletzt sammelt der Mensch sich im Sammeln selbst.
Die vielfältigen Bedeutungen des materiellen Objekts Vinylschallplatte schlagen sich besonders in einer ihm zugeschriebenen hohen "Authentizität" nieder. Diese Authentizität ist "im Sinne einer nostalgisch verstandenen Echtheit der mechanischen Aufführungspraxis (dem 'Originalklang von früher') wie auch der Anrufung einer Authentizität der eigenen Existenz des Sammlers über seine Lebensspanne hinweg zu verstehen" (Lund et al. 2022: 362; vgl. Shuker 2010: 65-72, Elster 2021). Im Akt des Kuratierens einer eigenen Plattensammlung drückt sich eine Imagination "soziotemporaler Netzwerke" aus, die über die individuelle Vergesellschaftung der Sammler und deren zeitliche Gebundenheit hinausweist (Yochim & Biddinger 2008: 192-193). In ihrem "auratischen Überschuss an Zeichen und Bedeutungen, der über die primäre Nutzung als Musikquelle und sogar die Lebensspanne von Besitzern hinausweist, kann die Schallplatte [...] als ein Totem identifiziert werden. Als Totem verweist sie auf Lebensstile, Gruppenzugehörigkeiten, Expertise und die Aufladung von spezifischen Orten mit Bedeutungen" (Lund et al. 2022: 362; vgl. Bartmański & Woodward 2015: 138).
Kritik an der sich rapide digitalisierenden Gegenwart
Die Renaissance der Schallplatte ist, so Zöllner, aber durchaus „auch als Kritik an der sich rapide digitalisierenden Gegenwart lesbar: als Sehnsucht nach einer stärker auf materieller Haptik basierten und vielleicht auch langsamer verstreichenden Zeit. Aus den Zumutungen durch digitale Institutionen [...] resultiert in der 'Metamoderne' [...] ein Unbehagen vieler Menschen der Gegenwart gegenüber. Es handelt sich beim Dokument Vinylschallplatte also um eine Auseinandersetzung mit dem Narrativ der permanenten technischen Innovation bzw. der Vektor-Ideologie des scheinbar stets nur nach vorne und nach oben weisenden Fortschritts" (Lund et al. 2022: 359).
In seiner Conclusio hielt Zöllner seine Thesen fest, dass die in Schallplatten bzw. einer Schallplattensammlung angelegte Hoffnung auf Immortalität ein instabiles Konstrukt sei. Dennoch erscheine eine sorgfältig kuratierte Schallplattensammlung als Ausdruck der transzendenten Orientierung von Sammlerinnen. Durch die physische Manifestation in materiellen Gütern stemme sich der Aufbau einer derartigen Sammlung gegen die mehr oder weniger entmaterialisierte und flüchtige Welt der Digitalität. Weit mehr als bloße "analoge Nostalgie" (Schrey 2017) könnte hiermit auch eine Widerständigkeit gegen eine Welt ohne greifbare, vererbbare und sicher lesbare Zeugnisse eines gelebten Lebens verbunden sein. Eine gewisse Dialektik des Schallplattensammelns liegt nach Zöllner allerdings darin, dass diese Praxis auf der ökologischen Ebene zur Vernutzung von Welt beiträgt (durch erheblichen Ressourcenverbrauch, Umweltschäden usw.). Produkte aus Polyvinylchlorid sind damit auch ethisch fragwürdig. Als Mittel des Akkumulierens einer objektgestützten Erinnerung an ihr Selbst setzen Plattensammler:innen zudem letztlich auf Konsumismus, also eine Glaubensorientierung, die Konzepte von Göttlichkeit hinter sich lässt oder negiert. Am Ende steht die Leere. Nichts Neues vom Tode.
Zitierte Literatur:
Bartmański, Dominik; Woodward, Ian (2015): Vinyl: The analogue record in the digital age. London, New Delhi, New York, Sydney: Bloomsbury.
Elster, Christian (2021): Pop-Musik sammeln. Zehn ethnografische Tracks zwischen Plattenladen und Streamingportal. Bielefeld: transcript.
Habermas, Tilmann (1999): Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Lund, Holger; Michel, Burkard; Zöllner, Oliver (2022): Die Vinylschallplatte als Zeichen- und Handlungsträger gesellschaftlicher Transformationen in der Digitalisierung. In: Christian Schwarzenegger, Erik Koenen, Christian Pentzold, Thomas Birkner und Christian Katzenbach (Hrsg.): Digitale Kommunikation und Kommunikationsgeschichte. Perspektiven, Potentiale, Problemfelder (= Digital Communication Research, Bd. 10). Berlin: Böhland & Schremmer, S. 343-373. https://doi.org/10.48541/dcr.v10.13
Schrey, Dominik (2017): Analoge Nostalgie in der digitalen Medienkultur. Berlin: Kadmos.
Shuker, Roy (2010): Wax trash and vinyl junkies: Record collecting as a social practice. Aldershot: Ashgate.
Yochim, Emily Chivers; Biddinger, Megan (2008): 'It kind of gives you that vintage feel': Vinyl records and the trope of death. In: Media, Culture & Society, 30(2), S. 183-195. https://doi.org/10.1177/0163443707086860
*********
Veranstaltungsort: Tübingen
Datum: 21.03.2024 bis 22.03.2024
Weiterführende Links:
Tagungsprogramm
Institut für Digitale Ethik der Hochschule der Medien Stuttgart
Autoren
- Name:
- Prof. Dr. Oliver Zöllner
- Forschungsgebiet:
- Digitale Ethik, Empirische Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Public Diplomacy
- Funktion:
- Professor
- Lehrgebiet:
- Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Digitale Ethik, Public Diplomacy, Nation Branding, Hörfunkjournalismus
- Studiengang:
- Medienwirtschaft (Bachelor, 7 Semester)
- Fakultät:
- Fakultät Electronic Media
- Raum:
- 216, Nobelstraße 10 (Hörsaalbau)
- Telefon:
- 0711 8923-2281
- Telefax:
- 0711 8923-2206
- E-Mail:
- zoellner@hdm-stuttgart.de
- Homepage:
- https://www.oliverzoellner.de
Eingetragen von
Mehr zu diesem Autor