Die Normalisierung der Lüge in Zeiten der 'Post-truth'
Über Nihilismus in digitalisierten Öffentlichkeiten

Auf der IDEepolis-Tagung des Instituts für Digitale Ethik (IDE) hielt Prof. Dr. Oliver Zöllner am 5. Dezember 2018 einen Vortrag zum Thema "Chemtrails, Birthers und 'Lügenpresse': Wahrheit in Zeiten der 'Post-truth'". In ihm legte er dar, wie sich unter den Bedingungen der Mediatisierung und Digitalisierung in bestimmten, teils großen Teilöffentlichkeiten fiktionale Narrative wie etwa Verschwörungstheorien festsetzen können, die den gesellschaftlichen Diskurs oft maßgeblich beeinflussen. Zöllner zeichnete die "Wahrheitsspiele" nach, die im Kontext einer Herrschaft der "Post-truth", der "Nach-Wahrheit", neue Formen der Lüge und der Falschheit hervorbringen.
Im Rückgriff auf den amerikanischen Moralphilosophen Harry G. Frankfurt (On Bullshit, 2005 und On Truth, 2006) legte Zöllner dar, wie das "Bullshitting", also das Tätigen nicht wahrhaftigkeitsorientierter Äußerungen, bei denen es vor allem um das "Eindrucksmanagement" des Sprechers geht, die Lüge gewissermaßen normalisiert hat. Mit Jean Baudrillard (1977) könne man "Bullshit" auch als "effektreiche Simulation" bezeichnen bzw. als "Hyper-Wahrheit", die keiner Wahrhaftigkeit mehr verpflichtet ist, so Zöllner. Maßgebliche Politiker wie Donald Trump, Vladimir Putin oder Boris Johnson seien hierin Meister. Sie bedienen auch sehr kompetent die Klaviatur und Kanäle des modernen Medienzeitalters: Social Media und PR-Kommunikation verbinden sich bei diesen exemplarischen Politikern zu Transmissionsriemen von Unwahrheiten oder der schlichten Leugnung eines Rekurses auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit.
Zöllner argumentierte, dass der disruptive Ansatz dieser und anderer Protagonisten Ausdruck von Nihilismus sei. Unter Nihilismus ist eine Leugnung von Wirklichkeit zu verstehen, die allerdings keineswegs die Möglichkeit von Seiendem verneint (hier lässt erkennbar Friedrich Nietzsche grüßen). Im Sinne eines 'aktiven Nihilismus' sind Veränderungen des Denkens und der Verhältnisse vorstellbar – es bedürfe hierfür aber eines Willens: des Willens zur Wahrheit. Diesem stehe, so Zöllner, eine unter den Bedingungen einer digitalen Bequemlichkeitsgeellschaft weit verbreitete 'Alles-egal'-Haltung vieler Menschen entgegen, also ein 'passiver Nihilismus'. Somit stellte Zöllner zwei Kernfragen: Ist die Wahrheit uns nichts mehr wert? Und: Haben wir den Willen zur Wahrheit verloren – oder die Vorstellung dessen, was Wahrheit ist?
Zöllner plädierte am Ende seines Vortrags mit Michael Butter ("Nichts ist, wie es scheint": Über Verschwörungstheorien, 2018) für die Vermittlung einer neuen Gesellschaftskompetenz, die gleichermaßen (digitale) Medienkompetenz und Geschichtskompetenz enthalten sollte. Allerdings gab Zöllner dabei zu bedenken, dass dies über Generationen hinweg eine Langzeit- und Mammutaufgabe für die Gesellschaft bedeute und auch kein Allheilmittel sei, schließlich gebe es in Geschichte und Gegenwart zahlreiche Beispiele für hochgebildete und -kompetente Menschen, die dennoch aktive Verschwörungstheoretiker und Propagandisten geworden bzw. letzteren auf den Leim gegangen seien. Zu klären sei nach Nolen Gertz (Nihilism and Technology, 2018) vor diesem Hintergrund das Ziel unserer zunehmend digital vernetzten Gesellschaft: Wollen wir eine problemfreie Welt schaffen – oder eine reflexionsfreie? Die erste Option ist unrealistisch, die zweite im Sinne eines aktiven Nihilismus nicht wünschenswert. Wir müssen uns verständigen.
Vortrag auf Veranstaltung: IDEepolis 2018: Digitalisierung und Demokratie
Veranstaltungsort: HdM Stuttgart
Datum: 05.12.2018
Weiterführende Links:
Das Programm der IDEepolis 2018 und der META-Verleihung
"Der Bullshit hat die Lüge normalisiert": Tagungsbericht von Sascha Schmidt (Landesmedienzentrum Baden-Württemberg)
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Autoren
- Name:
-
Prof.
Dr. Oliver Zöllner
- Forschungsgebiet:
- Digitale Ethik, Empirische Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Public Diplomacy
- Funktion:
- Professor
- Lehrgebiet:
- Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Digitale Ethik, Public Diplomacy, Nation Branding, Hörfunkjournalismus
- Studiengang:
- Medienwirtschaft (Bachelor, 7 Semester)
- Fakultät:
- Fakultät Electronic Media
- Raum:
- 216, Nobelstraße 10 (Hörsaalbau)
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