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Kinderbilder in Social Media aus Sicht der Digitalen Ethik

Autonomie und Handlungsfreiheit in einem öffentlich-privaten Raum neuer Art

"Kinderbilder in Social Media aus Sicht der Digitalen Ethik", erschienen in der juristischen Fachzeitschrift "Privacy in Germany - PinG", 5. Jahrgang, Heft 1, S. 31-37 (Foto: Oliver Zöllner)
Der Aufruf der Polizei Hagen vom Oktober 2015, keine Kinderbilder in Social Media frei zugänglich zu posten. (Bildquelle: Polizei Hagen i.W./mit freundlicher Genehmigung)
Der Aufruf der Polizei Hagen vom Oktober 2015, keine Kinderbilder in Social Media frei zugänglich zu posten. (Bildquelle: Polizei Hagen i.W./mit freundlicher Genehmigung)

Ist es vertretbar, Fotos von Kindern bei Facebook oder anderen sozialen Online-Netz­werken zu veröffent­lichen? Hierüber ent­brannte Ende 2015 eine rege Diskussion - im Internet wie auch außerhalb -, angestoßen von einem viel beach­teten Posting der Polizei­behörde Hagen. HdM-Professor Oliver Zöllner vom Institut für Digitale Ethik nahm dazu in einem Interview mit der Süd­deutschen Zeitung öffentlich Stellung. Jetzt ist sein wissen­schaft­licher Beitrag dazu erschienen: in der juristischen Fach­zeitschrift Privacy in Germany - PinG.

Zöllner legt darin aus medien­soziolo­gischer und medien­ethischer Perspektive dar, was es bedeutet, wenn Medien­nutzer Bilder von Kindern auf Social-Media-Foren hochladen. Der Artikel argumentiert, dass unter den Bedingungen von "Big Data" die Privat­sphäre ein Teil des öffent­lichen Raumes geworden ist: Menschen würden zunehmend "öffentlich privat". Die kategoriale Unter­scheidungs­unschärfe zwischen dem, was gezeigt werden kann, und dem, was versteckt bleiben sollte, könnte Folge eines neuen "relationalen" (in Abkehr von einem klassisch individuellen, autonomen) Verständnisses des Selbst in Online-Kontexten sein. Als Desiderate erscheinen die Suche nach neuen ethischen Werten für das "Onlife", also mithin die Vermittlung einer neuen Privatheits­kompetenz und die Repolitisierung des Diskurses um die Privatheit.

Als theoretische Basis für seine Ausführungen zieht Zöllner die Überlegungen der Philosophin Hannah Arendt zur öffentlichen und privaten Sphäre aus Kapitel 2 ihres grundlegenden Werkes "The Human Condition" von 1958 heran (dt.: "Vita activa oder Vom tätigen Leben", 1960). Arendt legt darin dar, dass in der Moderne eine Verschmelzung oder Überlappung der beiden klassischen Sphären Privatheit und Öffentlichkeit stattgefunden habe und die Menschen sich unter diesen neuen Bedingungen auch in den Verrichtungen ihres Alltags entsprechend anders verhielten. Nun seien es private Dinge, die ihr Bewusstsein dominierten und in die Öffentlichkeit drängten; zugleich würden die öffentlichen Belange privatisiert, mithin also entpolitisiert.

Genau in dieser paradoxen Zwischenwelt positioniert Zöllner die bei Facebook geposteten Kinderbilder und zeigt die vielfältigen Problematiken dieser weit verbreiteten sozialen und kulturellen Alltagspraxis auf. Als Erkläransatz für dieses oft problematische (Preisgabe detaillierter Daten, Persönlichkeits- und Verbreitungsrechte, beschnittene Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder) und teilweise durchaus gefährdende Verhalten der Eltern (Identitätsdiebstahl, Cybermobbing, Stalking, sexuelle Übergriffe u.a.) greift Zöllner auf die These des Medienethikers Charles Ess (2014) zurück, die Menschen lebten im digitalen Zeitalter zunehmend als "relationale" Wesen, die sich in ihren Handlungen mehr und mehr an den Handlungen anderer Menschen im Netz orientierten – bzw. zunehmend eben auch an den Entscheidungen von Algorithmen. Insofern ist zu konstatieren, dass hier eine neue Art kultureller Prägung vorliegt; viele Eltern posten Bilder ihrer Kinder, ohne darüber nachzudenken und ohne sich der längerfristigen Konsequenzen bewusst zu sein (nach dem Motto: "Es ist doch nichts dabei").

Zöllner unterfüttert die These vom allmählichen Übergang vom autonomen, individuellen Selbst hin zum relationalen Selbst mit den Ausführungen des Cyberpsychologen John Suler (2016), der kongenial eine neue Prägung des Menschen im Sinne eines in Online-Kontexten "enthemmten" Selbst sieht: Menschen wähnten sich im Netz unbeobachtet und "privat" und posteten entsprechend relativ ungehemmt auch privateste oder intime Details ihres Lebens, oftmals sogar in Kenntnis problematischer exzessiver Speicherung, Weitergabe und Auswertung von Daten durch Unternehmen und Behörden.

Oliver Zöllner kommt in seinem Beitrag zu dem Schluss, dass es einer verstärkten gesellschaftlichen Debatte um Datenschutz und Privatheit bedürfe und dass dieser Diskurs in den politischen Raum getragen werden müsse: Ganz im Sinne Hannah Arendts müsse diese Debatte um das "gelingende Leben" politisch geführt werden; es gehe eben nicht bloß um Privatangelegenheiten von Individuen und ihr privates Glück, sondern um das Gelingen und Erblühen der Gesellschaft insgesamt. Mit Rückgriff auf Arendt, Ess und jüngst Brunton/Nissenbaum (2015) gibt Zöllner ein Plädoyer für eine neu verstandene Tugendethik im Sinne eines Strebens nach höheren Werten ab: Es umfasst die informationelle Selbstbestimmung von Kindern, und dabei eben auch den Schutz von Daten und Privatheit, als Aufgabe für jeden Einzelnen wie auch für das Staatswesen als ganzes. Wir müssen neu lernen, uns in der Cyberwelt angemessen zu verhalten.

Zöllner, Oliver (2017): Kinderbilder in Social Media aus Sicht der Digitalen Ethik. Autonomie und Handlungsfreiheit in einem öffentlich-privaten Raum neuer Art. In: Privacy in Germany - PinG, 5. Jahrg., Nr. 1, S. 31-37.

 

Quellen (Auswahl):

Arendt, Hannah (1958): The Human Condition. Chicago: Chicago University Press.

Brunton, Finn & Nissenbaum, Helen (2015): Obfuscation: A User's Guide for Privacy and Protest. Cambridge, London: MIT Press.

Ess, Charles (2014): Selfhood, Moral Agency, and the Good Life in Mediatized Worlds? Perspectives From Medium Theory and Philosophy. In: Knut Lundby (ed.): Mediatization of Communication. Berlin, Boston: de Gruyter Mouton, S. 617-640.

Gardner, Howard & Davis, Katie (2013): The App Generation: How Today's Youth Navigate Identity, Intimacy, and Imagination in a Digital World. New Haven, London: Yale University Press.

Nissenbaum, Helen (2010): Privacy in Context: Technology, Policy, and the Integrity of Social Life. Stanford: Stanford Law Books.

Suler, John R. (2016): Psychology of the Digital Age: Humans Become Electric. New York: Cambridge University Press.

 

Zur weiteren Auseinandersetzung:

Kinderbilder im Internet: "Die Eltern haben die Oberhoheit". Der Cyberkriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger im Gespräch mit Sebastian Wellendorf. Deutschlandfunk, 16.11.2017. Online: www.deutschlandfunk.de/kinderbilder-im-internet-die-eltern-haben-die-oberhoheit.2907.de.html?dram:article_id=400729

 

 


Weiterführende Links:
Zusammenfassung des Beitrags (PinG digital)


Autoren

Name:
Prof. Dr. Oliver Zöllner  Elektronische Visitenkarte
Forschungsgebiet:
Digitale Ethik, Empirische Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Public Diplomacy
Funktion:
Professor
Lehrgebiet:
Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation, Digitale Ethik, Public Diplomacy, Nation Branding, Hörfunkjournalismus
Studiengang:
Medienwirtschaft (Bachelor, 7 Semester)
Fakultät:
Fakultät Electronic Media
Raum:
216, Nobelstraße 10 (Hörsaalbau)
Telefon:
0711 8923-2281
Telefax:
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E-Mail:
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