Aufsatz

Zwischen Utopie und Dystopie: Künstliche Intelligenz in den Fernsehmagazinbeiträgen der ARD

Wie sprechen wir über Künstliche Intelligenz (KI)? Mit der Entwicklung neuer Technologien sind oft utopische Heilserwartungen genauso verbunden wie dystopische Untergangsszenarien. Jan Doria, akademischer Mitarbeiter am Institut für Digitale Ethik (IDE), zeichnet nun in einem neu erschienen Buchbeitrag nach, wie Künstliche Intelligenz in den Fernsehmagazinbeiträgen der ARD dargestellt wird.


Dorias Untersuchung stützt sich auf einen Korpus von 30 Fernsehmagazinbeiträgen im Zeitraum vom 1. Quartal 2020 bis zum 1. Quartal 2021 in der ARD-Mediathek. Trotz aller Kritik nimmt der öffentlich-rechtliche Rundunk nach wie vor eine hegemoniale Stellung innerhalb des deutschen Mediensystems ein, weswegen es besonders lohnenswert erschien, dessen Berichterstattung zu untersuchen.

Dorias Ergebnisse zeigen: Künstliche Intelligenz wurde von den ARD-Sendern im Untersuchungszeitraum zwar in einer breiten Spannweite lebensweltlicher Kontexte – von Wissenschaft über Beruf und Gesundheit bis hin zu Religion – situiert; rund die Hälfte der Beiträge erschienen jedoch in Wissenschaftsmagazinen wie "odysso – Wissen im SWR".

Die inhaltliche Auswertung interessierte sich vor allem für die Struktur der Erzählungen über KI, die von den Fernsehmagazinbeiträgen der ARD transportiert wurden. Eine narrativ-semiotische Medienanalyse konnte so aufzeigen, dass die Berichterstattung im Untersuchungszeitraum zwischen zwei Metanarrativen (großen Erzählungen) schwankte: Acht der 30 Beiträge zeigten ein utopisches Grundmuster, in dem die KI als Helfer des Menschen auftrat und so einen konkret messbaren Beitrag zur Lösung alltagspraktischer Probleme leistete: Corona-Infizierte zu erkennen oder eine Prothese zu steuern. 14 Beiträge dagegen semantisierten die Künstliche Intelligenz grundlegend negativ: als Gegner des Menschen und drohende Gefahr für übergeordnete moralische Werte oder Prinzipien wie beispielsweise den Rechtsstaat. Die restlichen acht Beiträge wiesen keine narrative Struktur auf.

Von besonderer Bedeutung waren dabei drei sich von diesen Grundmustern unterscheidende Abweichungen. Diese bezeichnete Doria als "narrative Mutationen" und versuchte ihre Analyse mithilfe eines Vorschlags zur Erweiterung der klassischen Erzähltheorie durch die neu eingeführten Begriffsinstrumente des "nichtstattfindenden Zentralereignisses" (NSZE), der "Verhinderung des Zentralereignisses" (VZE) und des "semantischen Gefängnisses" (SG).
Im Falle des NSZEs ist das Zentralereignis zwar möglich und wird vom Protagonisten angestrebt, findet jedoch nicht statt. So versagt beispielsweise eine KI-gesteuerte Stau-App vor der Herausforderung, einen besseren "Weg aus dem Stau", so der Titel des entsprechenden Fernsehmagazinbeitrags, zu finden.
Im Falle des VZEs möchte der Protagonist das "Umkippen" eines positiv konnotierten Weltentwurfs ins Negative verhindern. So fordert beispielsweise ein Beitrag aus der Sendung "puzzle" des Bayerischen Rundfunks (BR) dazu auf, zu verhindern, dass Künstliche Intelligenz unsere offene Gesellschaft in eine von Diskriminierung und Ungerechtigkeit dominierte Zukunft überführt.
Im Falle des SGs wiederum ist der Protagonist gewissermaßen in einem semantischen Innenraum "gefangen" und scheitert daran, aus diesem herauszutreten. So zeigt beispielsweise der Beitrag "Profis testen die Basketball-App", ebenfalls im BR ausgestrahlt, wie eine KI-gestützte Trainingsapp zwar die Basketballspieler des FC Bayern zwar dabei unterstützt, ein effektiveres Training durchzuführen. Die dominierende kommerzielle Ausrichtung des Leistungssports wird dadurch jedoch nicht überwunden, sondern vielmehr noch weiter gesteigert.

Doria sieht als Fazit die Aufgabe einer narrativen Digitalethik darin, realistische Utopie-Narrative der Künstlichen Intelligenz zu entwickeln, die nicht den Fehler der semantischen Gefängnisse begehen, ggf. zu problematisierende gesellschaftliche Strukturen zu perpetuieren.


Erschienen in:

Medien – Ethik – Digitalisierung. Aktuelle Herausforderungen (= Medien­ethik | Digitale Ethik, Bd. 20)
Auf den Seiten: 175-195
Autoren: Doria, Jan
Hrsg.: Petra Grimm, Harald Pechlaner und Oliver Zöllner
Erscheinungsjahr: 2023
Verlag: Franz Steiner Verlag
Ort: Stuttgart

Weiterführende Links:
https://biblioscout.net/book/10.25162/9783515136013


Autoren

Name:
M.A. Jan Doria  Elektronische Visitenkarte
Forschungsgebiet:
Digitale Ethik, Narratologie, Medienanalyse, Digitalisierung & Nachhaltigkeit, Ethik der KI
Funktion:
Projektmitarbeiter
Abteilung:
Fakultät Electronic Media
Raum:
S103, Nobelstraße 10a (Nobelstraße 10a)
Telefon:
0711 8923-3288
Jan Doria

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